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Wenn Deutsche zu sehr lieben...

II.

Sexualität und Geschlechterverhältnis im postfaschistischen Deutschland

"Der Habicht Mutter und der Bussard Omutter verbieten dem ihnen anvertrauten Kind das Verlassen des Horstes. In dicken Scheiben schneiden sie IHR das Leben ab,...(S.45)

Sie haben im weitem Umkreis Späher unter Vertrag, die das Betragen des weiblichen Kindes außerhalb seines Hauses ausspionieren und bei einem Schalerl Kaffee vor den weiblichen Erziehungsberechtigten gemütlich auspacken....Dann sagen die Kundschafterinnen, was sie beim alten Stauwehr gesehen haben: das kostbare Kind mit einem Studenten aus Graz! Das Kind wird jetzt nicht mehr aus der häuslichen Umhüllung herausgelassen, bis es sich gebessert hat und dem Mann abschwört." (S.44)

Erika, die Tochter vom Habicht Mutter und vom Bussard Omutter ist die Klavierspielerin von Elfriede Jelinek. Als Klaviervirtuosin gescheitert, lehrt sie am Wiener Konservatorium. Mit Mitte dreißig wohnt sie mit der Mutter und teilt mit ihr das Schlafzimmer. Der Vater ist an der Ehe irre geworden und deshalb im Irrenhaus. Die allmächtige Mutter verfolgt die Tochter und wacht über ihre sozialen Beziehungen, auf dass diese nicht zu eng werden. Erikas Körper ist nicht der ihre. Schmücken darf sie ihn nicht, Kleider kaufen auch nicht, Sex haben sowieso nicht. "Nur mit IHREM Können und IHREM Wissen wird sie je einen Menschen fesseln können, droht die Mutter in gemeinster Weise. Sie bedroht das Kind mit Erschlagen, sobald es mit einem Mann gesichtet werden sollte." (S.104)

Ganz sollen sie und ihr Körper der Mutter gehören. Da der enteignete Körper nicht spürbar ist und ein heimliches Erkunden des Körpers im Bett der Mutter undenkbar, schneidet sie sich im Bad mit einer Rasierklinge - dem Einzigen, was vom Vater in der Wohnung übrig blieb - die Schamlippen auf. "Erika würde die Grenze zu ihrer eigenen Ermordung gern überschreiten." (S.135) Doch wird ihr Körper ihr dadurch nicht vertrauter. "Wie üblich tut nichts weh. Sie schneidet sich jedoch an der falschen Stelle...Sie muß erstmal die Blutung zum Stillstand bringen und bekommt dabei Angst. Der Unterleib und die Angst sind ihr zwei befreundete Verbündete...Die Mutter kann kontrollieren, ob sie ihre Hände des Nachts auf der Bettdecke behält oder nicht, doch um die Angst unter Kontrolle zu bekommen, müßte sie ihrem Kind erst die Schädelkapsel aufstemmen und die Angst persönlich ausschaben." (S.111/112)

Einen Teil ihres Sexuallebens treibt sie sich in voyeuristischer Absicht nachts in Autokinos herum und besucht Pornokinos und Peep- Shows. Bis einer ihrer Studenten, Walter Klemmer, sich in sie verliebt.

"Klemmer schildert Erika eine utopische Partnerschaftlichkeit, durch liebende Gefühle gut gewürzt...Erika will erst nach einer Irrung und nach Wirrnissen geliebt werden, gibt sie an. Sie spinnt sich ganz in ihre Gegenständlichkeit ein und sperrt ihre Gefühle aus. Die Kredenz ihrer Scham, den Kasten ihres Unbehagens hält sie krampfhaft vor sich hin, und Klemmer soll diese Möbel mit Gewalt wegrücken, um zu Erika zu gelangen." (S.266)

Bei Erika, die nächtlich ihre Mutter im gemeinsamen Bett vergewaltigt und ihrem Freund Klemmer keinerlei Annäherung gestattet als eine sadistische, ist Sex allein gewalttätig. Fortan versucht sie ihn zu beherrschen, bis Klemmer sie vergewaltigt und sie am Ende zur Mutter zurückkehrt.

Erika und ihre Mutter scheinen nicht geeignet, als klassisches Beispiel einen Blick auf die Lage von Geschlechtern und deren Verhältnis zueinander zu eröffnen. Kennen wir alle derartige Frauenzwangsgemeinschaften von Müttern und Töchtern, die hasserfüllt nicht voneinander lassen können, so sind die Gemeinschaften von Frauen und Männern mit und ohne Kinder erst mal das Normale.

Und doch erhellt diese grausame Zweisamkeit einen Aspekt, der sich auch in anderen Mutter- Tochter- Beziehungen finden lässt, in denen der Vater nicht ohne Grund fehlt.

Anders als im Märchen gibt es neben der bösen Hexe für Erika nicht noch eine zweite gute Mutterfigur, die sie beschützt, ebenso wenig den Ritter, der sie auf seinem Pferd mit davon nimmt. Vollkommen ausgeschlossen ist der Vater, der der Tochter seinen Segen geben könnte.

Erika sei nun auch von uns vorerst im Stich gelassen. Aber sie hat uns den Weg zur allmächtigen Mutter, der ausgelieferten, sexuell pervertierten Tochter und dem abwesenden Vater sowie dem verschwindenden Begehren gewiesen, und wird uns weiterhin als Beispiel dienen.

In "Über die weibliche Sexualität" nimmt Freud eine Einbindung zweier neuer Beobachtungen im Bereich der ersten Mutterbindung in das bisher von ihm erschlossene Bild der weiblichen Sexualität vor. Einmal beobachtet er, dass eine starke Vaterabhängigkeit nur Folge einer ebenso intensiven Mutterbindung der präodipalen Phase sein kann und diese zudem mehr Raum beansprucht als bisher angenommen. Freud nimmt an, dass der Penisneid des Mädchens ein primäres Phänomen sei, d.h. dass für das kleine Mädchen bis zur Pubertät die Vagina unentdeckt bleibt. Nur die Klitoris wird wahrgenommen, diese wird als kastrierter Penis erlebt. Einziger Ausweg für das Mädchen, die narzisstische Kränkung zu überwinden und die mit Schrecken festgestellte Unvollständigkeit ihrer Triebausstattung abzuschaffen, scheint zu sein, sich selbst einen Penis anzuschaffen. "Wenn das kleine Mädchen durch den Anblick eines männlichen Genitales seinen eigenen Defekt erfährt, nimmt sie die unerwünschte Belehrung nicht ohne Zögern ...an. Wie wir gehört haben, wird die Erwartung, auch einmal ein solches Genitale zu bekommen, hartnäckig festgehalten, und der Wunsch danach überlebt die Hoffnung noch um lange Zeit." (Drei Abhandlungen, S.176)

Denkbar ist aber auch, dass das Mädchen sich sehr wohl der Existenz seiner Vagina bewusst ist, bei Aufkommen des Penisneides diese aber in narzisstischer Weise verleugnet wird. So geht Janine Chasseguet-Smirgel in ihrem Aufsatz "Die weiblichen Schuldgefühle" davon aus, dass die Annahme, die oralen, analen und genitalen Triebregungen seien primären Charakters nicht der Annahme vom primären Charakter des Penisneides widerspricht. Ihr zufolge kann das Mädchen sich also sehr wohl seiner Vagina bewusst sein und sich gleichzeitig als unvollständig erfahren.

Das Gefühl der Unvollständigkeit entwickelt sich aus der frühen Mutterbeziehung - und zwar bei beiden Geschlechtern. Das erste Imago der Mutter ist nicht nur das der liebenden und fürsorglichen, sondern die Mutter ist zugleich die allmächtige, die das vorerst noch passive Kind durch ihre Aktivität bedroht. Die Mutter wird also einerseits als omnipotente, phallische, überwältigende Mutter erlebt und andererseits als kastrierte Mutter, der - im Gegensatz zum Vater- der Penis fehlt. Die kastrierte Mutter ist zugleich die phallische Urmutter, die die Kastrationswünsche des ohnmächtigen Kindes auf sich zieht.

Die nebeneinander bestehenden Bilder - die kastrierte Mutter wie die allmächtige Urmutter - begreift Chasseguet-Smirgel beide als Ausdruck des Wunsches, sich von der Mutter zu befreien.

Um sich Autonomie zu verschaffen, müsste das Mädchen etwas haben, was es der Mutter ebenbürtig macht. In der Phantasie besitzt die omnipotente Mutter den Phallus, sie muss ihn dem Vater gestohlen haben und in sich aufbewahren. Hätte das kleine Mädchen auch einen Penis, wäre es der Mutter ebenbürtig und könnte ihr als ganze Person gegenübertreten.

Der kleine Junge hat einen Schwanz, den er der Mutter entgegenhalten kann und, da er das ja nicht darf, später auch anderen Frauen. Das Mädchen hingegen ist ausweglos der Allmacht ausgeliefert.

Auch Erika hat nichts, was anders wäre, und ihr die ersehnte Freiheit bringen würde. Einer ihrer Versuche, dem Willen der Mutter entgegenzutreten, ist das Kaufen von Kleidern, was sie in fetischistischer Manier betreibt.

Der Fetisch dient dazu, den Penis des Mannes oder die Klitoris darzustellen und die Kastration der Mutter zu überspielen. Er fungiert als Bewahrer des mütterlichen Phallus bei gleichzeitigem Wissen, dass die Mutter eigentlich keinen Phallus hat. Der Schock dieser Entdeckung führt zur Verleugnung. In der Phantasie wird so der Phallus der Mutter aufrechterhalten, in seiner phantasmatischen Gestalt ist er - aufgrund des Wissens, dass er eigentlich nicht ist- aber nicht mehr das, was er vor seiner Enttarnung war. An seiner Statt ist nun der Fetisch. Verleugnung und Behauptung der Kastration stehen nebeneinander. Der Fetisch wird verehrt und vernichtet zugleich. Erikas Kleider versteinern zum Phallus und reinszenieren die Kastration der Mutter

. "Sie zieht sie alle nie an. Sie sollen nur hier auf sie warten, bis sie am Abend nach Hause kommt. Dann werden sie ausgebreitet, vor den Körper drapiert und betrachtet. Denn: Ihr gehören sie! Die Mutter kann sie ihr zwar wegnehmen und verkaufen, aber sie kann sie nicht selber anziehen, denn die Mutter ist leider zu dick für diese schmalen Hüften.... Schon kann sich Erika an den kurzen flüchtigen Reiz, den das Kleid im Geschäft auf sie ausübte, nicht mehr erinnern. Jetzt hat sie eine Kleiderleiche mehr, die aber immerhin ihr Eigentum ist." (S.15)

In Zusammenhang mit dem nächtlichen Überwältigungsversuch der Mutter durch Erika, deren Ziel es ist, das mütterliche Genital betrachten zu können, und die dafür gewaltsam die Kleider der Mutter lüftet, gewinnen die Kleider hier die Bedeutung, die Freud in seinem Fetischismus- Aufsatz formulierte: "...die so häufig zum Fetisch erkorenen Wäschestücke halten den Moment der Entkleidung fest, den letzten, in dem man das Weib noch für phallisch halten durfte." ( Fetischismus, S.386)

Die Kleider ersetzen den Phallus, werden zum Fetisch, in dem Zeit und Geschichte erstarren. Kleiderleichen werden zum Phallusdenkmal. Denk immer daran, dass die Kleider mein Phallus sind, den du nicht haben kannst, denn dein Körper ist nicht für diese Kleider bestimmt, sagt Erika zu ihrer Mutter. Damit führt Erika die Kastration der Mutter auf. Und gleichzeitig auch ihre eigene. Denn nicht der Körper, an dem das Kleid hängt ist Gegenstand des Fetisch, sondern der Fetisch selbst ist Träger der Bedeutung. Der Ort, der für Erikas Kleider bestimmt ist, ist der Schrank und nicht die Straße als Laufsteg. Der Phallus wird im Vaginaschrank der Mutter eingesperrt.

Doch zurück: Der Besitz des Phallus scheint dem Mädchen der einzige Ausweg. Denn will das Mädchen den Penis nicht um des Penis selbst willen, so grenzt es sich mit diesem Wunsch gegen die allmächtige Mutter ab, die als Ursache der frühen und fortwährenden narzisstischen Kränkung ausgemacht wird.

Wer könnte mehr Hoffnung bringen, die Kränkung zu überwinden, als der Vater, der begehrte Liebhaber der kleinen Prinzessin. Enttäuscht wendet sie sich von der Mutter ab und dem Vater zu. Doch wenn das Mädchen sich bisher von der Mutter und deren Phallus bedroht fühlte, wieso erbittet sie sich den Phallus des Vaters- so könnte man einwenden.

Die Phantasie, die Mutter habe dem Vater den Phallus geraubt, rückt in der Zeit, in der sich der Objektwechsel vollzieht, in den Vordergrund und drängt die bisherige Vorstellung, die Mutter habe tatsächlich einen Phallus, beiseite. Denn hätte die Mutter einen eigenen Phallus, müsste sich das Mädchen tatsächlich nicht mit der Bitte an den Vater wenden, er möge ihr einen geben. Der Phallus wird als männlich identifiziert, und so erscheint der Wunsch danach - der mit dem Bild vom ganzen, unverwundbaren Körper verbunden wird- als Griff nach männlicher Macht.

Die Tochter möchte den Phallus vom väterlichen Körper trennen, um ihn sich zu eigen zu machen, und erwartet daher Liebesentzug und sogar Strafe vom Vater, der sich sein kostbares Teil nicht ohne weiteres nehmen lassen wird. Jeder Schritt von der Mutter weg droht einer zu sein, der gegen den Vater selbst, als Besitzer der Macht, gerichtet ist.

Der Mutter bringt das Mädchen in dieser Zeit immer mehr Feindseligkeit entgegen. Auf den Vater werden alle guten Aspekte der Mutterbindung projiziert, die bösen werden abgespalten und der Mutter zugeschrieben. Der Vater unterliegt während des Objektwechsels einem Idealisierungsprozess, während die Mutter, ihre Brust, ihr Phallus als bedrohlich und böse interpretiert werden.

Zwar ist die Triebentmischung, also die Spaltung in gutes und böses Objekt, die Voraussetzung dafür, dass der Objektwechsel überhaupt stattfinden kann, doch die Ambivalenz der Objektbeziehungen verschwindet nicht völlig.

Der idealisierte Vater ist auch die bedrohende, strafende Instanz, und die Mutter der willkürlichen Allmacht ist ebenso die fürsorgliche mit der versorgenden Brust. "...neben der starken Liebe (des Kindes zur Mutter, S. W.) ist immer eine starke Aggressionsneigung vorhanden, und je leidenschaftlicher das Kind sein Objekt liebt, desto empfindlicher wird es gegen Enttäuschungen und Versagungen von dessen Seite. Endlich muß die Liebe der angehäuften Feindseligkeit erliegen." (Freud: Die Weiblichkeit, S.101).

Der Wunsch des Mädchens, dem Vater den Phallus zu entwenden, um sich aus der Allmacht der Mutter zu befreien, führt zu einem Konflikt. Der Vater darf nicht das Opfer aggressiver Phantasien sein, denn er soll doch - als neuerkorenes Liebesobjekt- der Tochter in ihren Autonomiebemühungen zur Seite stehen. Chasseguet-Smirgel schreibt hierzu: " Um die Triebentmischung aufrechterhalten zu können, neigt das Mädchen zur Verdrängung und Gegenbesetzung der Aggressionsneigung innerhalb seiner Beziehung zu Vater und Penis. Daraus resultieren spezifisch weibliche Schuldgefühle bei jeder Betätigung der sadistisch- analen Komponente der Sexualität, deren Wesen der Idealisierung radikal widerspricht." (Chasseguet-Smirgel, S.139)

Das sadistische Streben nach der Einverleibung des väterlichen Phallus ist Folge der Identifikation mit der phallischen Mutter.

Das Mädchen muss sich mit der kastrierenden Mutter identifizieren, d.h. mit dem sadistisch- analen Moment der weiblichen Sexualität. Die Vagina ist dann nicht die passive, empfangene, sondern die nach dem Penis schnappende, ihn verschlingende Vagina.

"brigitte und heinz stöhnen zweistimmig vor liebe. brigitte hat dabei ein unangenehmes, heinz ein angenehmes gefühl im körper....heinz hat spaß, obwohl er keinen spaß dabei versteht. brigitte hat nichts davon außer einer vagen hoffnung. brigitte hat außerdem eine vagina. davon macht sie gebrauch. gierig schnappt brigittes vagina nach dem jungen unternehmer..." (Jelinek, S.56, die liebhaberinnen)

Wie Freud in "Über die weibliche Sexualität" betont, ist die Mutter - Tochter - Bindung ausschlaggebend für das Verhältnis zum Vater. Das heißt, von dem Gelingen einer ersten homosexuellen Objektbindung hängt das Gelingen der zweiten, heterosexuellen, ab.(1) -

Das wird bei den Töchtern der phallischen NS- Mütter nicht der Fall gewesen sein. Voraussetzung für die einigermaßen erfolgreiche Subjektwerdung der Frau ist eine Mutter- Tochter- Beziehung, in der das Kind der Mutter nicht , wie Chasseguet-Smirgel formuliert, "...als fäkales Partialobjekt zur Befriedigung ihrer Manipulations- und Bemächtigungsbedürfnisse gedient hat.." (S.163).

Erika fehlt jegliche Möglichkeit, sich selbst als Subjekt anzuerkennen, und so muss auch jede Revolte gegen ihre Mutter scheitern: “Alles, was Erika gegen die Mutter unternimmt, tut ihr sehr schnell leid, weil sie ihre Mutti liebhat, die sie schon seit frühester Kindheit kennt.” Diese zärtlichkeitsverweigernde Mutter, die keinen Raum für die homosexuelle Annäherung zwischen Tochter und Mutter lässt, die libidinös gehemmte Klammermutter: so eine Mutter ist die von Erika.

Ist Erika zu Beginn ohne ein begehrtes Objekt, und kann man sich auch nicht dazu entschließen, sie als begehrtes sich vorzustellen, so findet sie doch zu Walter Klemmer, den sie an der Mutter vorbei in ihr Zimmer lotst, um ihm einen Brief zu geben, in dem Anweisungen enthalten sind, wie er ihren - eh schon von ihr selbst geschundenen - Körper noch mehr schinden solle. Doch "Erika wünscht, daß er sie jetzt innig küßt und nicht schlägt." (S.286) Ihr Wunsch nach Zärtlichkeit ist für sie jedoch nicht formulierbar, geschweige denn in die Tat umzusetzen.

Erika konnte es nie gelingen, ihren Körper als von der Mutter eigenständigen narzisstisch zu besetzen, da ihre Mutter viel zu verklemmt, boshaft und sadistisch ist, um Erika als Spiegel eines imaginären Körperganzen zu dienen. So kann sie die Grenzen des Körpers nur durch Gewalteinwirkung wahrnehmen. "Man muß seine Grenzen kennen, und die Grenze beginnt dort, wo Schmerz empfunden würde." (S.271)

Klemmer hat für Erika die Position ihrer Mutter einzunehmen. Und in der Tat, mit dem Verschwinden des Vaters übernimmt das Gegenüber des Masochisten die Rolle der strengen, strafenden Mutter. Der Masochist stellt die Regeln, das Gesetz auf und setzt den Quäler in die eigens konstruierte symbolische Ordnung ein. "Sie gibt die Freiheit zwar auf, doch stellt sie die Bedingung: Erika Kohut nützt ihre Liebe dazu aus, daß dieser Junge ihr Herr wird." Da das väterliche symbolische Gesetz nie wirksam wurde, konstruiert sich der Masochist seine eigene pseudo- symbolische Ordnung. Der aufgestellte Vertrag karikiert die Kastration und stellt einen Versuch dar, das gescheiterte Gesetz doch noch zu seinem Recht kommen zu lassen. Der Quäler als grausame, phallische Mutter erniedrigt und straft die Vaterfigur, mit der sich der Masochist identifiziert. Doch der Vater verschwindet nicht. Aus der symbolischen Ordnung verdrängt, kehrt er im Realen, hier in Gestalt des Masochisten wieder, der sich für die Entmachtung bestrafen lässt.

Erika hat die Aussicht auf mütterliche Liebe längst aufgegeben. Die Mutter hatte sich besoffen, während Erika in ihrem Zimmer, mit der Vitrine vor der Türe, Klemmer - niemand heißt übrigens zufällig so - den masochistischen Liebesplan unterbreitet. Im mütterlichen Bett gibt es später mütterliche Schimpfe und Drohungen. Daraufhin spielt sich das eben schon angekündigte Szenario ab: "Erika macht einen halbherzigen Liebesversuch... Erika küßt in die Mitte der Schultern hinein, denn die Mutter wirft ihren Kopf auf die andere Seite, wo gerade nicht geküßt wird...Aus diesem Fleisch ist sie entstanden! Aus diesem mürben Mutterkuchen... Die Mutter wirft ihren Kopf wild herum, um den Küssen entkommen zu können, es ist wie bei einem Liebeskampf, und nicht Orgasmus ist das Ziel, sondern die Mutter an sich, die Person der Mutter...Je mehr Erika küßt, desto mehr drischt die Mutter auf sie ein...Erika saugt und nagt an diesem großen Leib herum, als wollte sie gleich noch einmal hereinkriechen, sich darin zu verbergen. Erika gesteht der Mutter ihre Liebe, und die Mutter keucht das Gegenteil, nämlich, daß sie ihr Kind ebenfalls liebe, doch solle dies Kind sofort aufhören!... Die Tochter hat für ganz kurze Dauer das bereits schütter gewordene dünne Schamhaar der Mutter betrachten können, das den fett gewordenen Mutterbauch unten verschloß...Die Mutter hat dieses Schamhaar bislang strengstens unter Verschluß gehalten. Die Tochter hat absichtlich während des Kampfes im Nachthemd der Mutter herumgestiert, damit sie dieses Haar endlich erblicken kann, von dem sie die ganze Zeit wußte: es muß doch da sein!... " (S.292- 94)

Doch nur scheinbar zielt Erikas Interesse auf das weibliche Geschlecht der Mutter. Erikas Mutter ist die phallische Frau par excellence, und Erikas gewalttätiges Bestreben ist auf den ganzen Körper der Mutter gerichtet. Was läge näher, als dass Erika sich vergewissern möchte, wo die Mutter den Phallus gelassen hat. Das Schamhaar und die Scham der Mutter können in ihrer Funktion durchaus im Freudschen Sinne interpretiert werden: die Scham entstammt dem ursprünglichen Vorhaben, das Fehlen des Phallus zu verbergen.

Die phallische Erikamutter ist die, die kein Begehren zwischen Tochter und Mutter zulässt, jede Homoerotik von sich und jede Sexualität von ihrer Tochter weist, einen geschlossenen, ganzen, phallischen Körper ohne ödipale Wunde dem Kind entgegenhält. Der gesamte Körper der Mutter erscheint als Phallus und Erikas Wunsch ist es folgerichtig, sich den ganzen Mutterkörper im Liebeskampf zu unterwerfen.

Ihre Macht ist deshalb nicht männlich, weil die väterliche, symbolische Macht die Abwesenheit des Gesetzeshüters voraussetzt. Erikas Mutter hingegen erdrückt Erika mit ihrer Nähe. Männlich mit mächtig zu identifizieren, führt hier nicht weiter. Die symbolische Ordnung konnte der geisteskranke Vater Erika erst gar nicht eröffnen. Die Präsenz der phallischen Mutter wirft überhaupt die Frage auf, ob der Vater auch einen Phallus hat oder nicht. Mit dem Verschwinden der paternalen symbolischen Autorität wird der Phallus, Geschlechtsidentität und Ordnung in Frage gestellt und der Vater gerät in die Bedrängnis, seine Macht immer wieder unter Beweis zu stellen. Verschwindet der Vater als der große Andere, der für das Gesetz bürgt, ist er es nicht mehr länger, der das Kind vom Platz an Mutters Seite verweist und es auf die endlose Suche nach dem Begehren schickt. Es droht nicht mehr die symbolische Kastration, sondern der Vater wird zum despotischen Urvater, der die Existenz des Kindes durch imaginäre und reale Zerstückelungsdrohungen in Frage stellt.

"Wenn die "beschwichtigende" symbolische Autorität suspendiert wird, läßt sich der tote Punkt des Begehrens, seine inhärente Unmöglichkeit, nur dadurch vermeiden, daß man die Ursache seiner Unzulänglichkeit in einer despotischen Figur lokalisiert, die für den ursprünglichen jouisseur steht: Wir können nicht genießen, weil er das ganze Genießen auf sich zieht." (Žižek, S.136)

Die Erikaurmutter ist Alleinherrscherin. Im Gegensatz zum despotischen Urvater, der alles Genießen auf sich zieht und nichts davon seinen Söhnen und Töchtern abtritt, ist sie selbst vom Genuss ausgeschlossen. Heftig wehrt sie alles ab, was Repräsentanz des Begehrens sein könnte

Die Abwehr gegen Weiblichkeit, speziell die der Tochter, teilt sie mit den Nazis. "Das weibliche Kind war verdammt, unbedeutend, ja gefährlich zu sein, nur mit eben jener Zärtlichkeit wäre ihm zu begegnen gewesen, die die ganze Ordnung gestört hätte. Das weibliche Kind war weich und würde weich machen. Und die Frau war verdammt, denn sie war schutzlos, allein und konnte nur schmutzige Begierden auf sich ziehen." (Seeßlen, S.19).

Der Körper des NS hatte ebenso wenig mit verruchter Weiblichkeit zu tun wie mit Homosexualität. Der Schutz gegen Penetration steht an erster Stelle. Keine verführerischen Frauen, sondern junge, frische Mädel mit Blumen auf den Tischen und Liedern auf den Lippen, die zu Müttern fürs Reich werden sollten. Der faschistische Körper sollte befreit werden von Zweideutigem, Maskerade, Schmerz und Begehren. Die Körper sind ganz geworden, Kastration und ödipale Wunde sollen am natürlichen Kollektiv der Körper verschwinden.

“Die Uniformen...ließen...jedes Mädchen als eine Ganzheit wirken, die keinen Moment eine Öffnung, ein Zeichen persönlicher Gefühlswelt freisetzen durfte.” (Martin Klaus, S.56/ 62)

Das straffe Mädel kokettiert nicht mit dem Nazipapa. Die Angst vor Penetration, also die Angst davor, doch kein echter Mann zu sein, bekämpft der Vater an der Tochter. Nie würde so eine Tochter auf die Idee kommen, sich an die Schminke und die Pumps ihrer Mutter zu wagen, um den väterlichen Blick auf sich zu ziehen.

Die Verhärtung der Körper lässt auch das körperliche Verhältnis von Mutter und Tochter nicht unberührt. Ist die Mutter eine, die jegliche homoerotische Zärtlichkeit unterbindet, kann das Mädchen unmöglich ein imaginäres Bild vom eigenen Körper bilden.

"Erika, die zuschaut ohne anzustreifen. Erika hat keine Empfindung und keine Gelegenheit, sich zu liebkosen. Die Mutter schläft im Nebenbett und achtet auf Erikas Hände. Diese Hände sollen üben, sie sollen nicht wie Ameisen unter die Decke huschen und dort an das Marmeladenglas fahren." (S.68)

Im NS betreiben Vater wie Mutter eine Entsexualisierung des töchterlichen Körpers. Ebenso wie die Mutter übt sich der Vater in der Abwehr des Weiblichen an der Tochter. Die Tochter fungiert als Hort der eigenen ausgesperrten Weiblichkeit und wird zur symbiotischen Verlängerung des väterlichen Körpers. Denn ist die Tochter Teil des eigenen Körpers, kann das verwünschte Geschlecht hier bekämpft werden. Die Angst vor Penetration wird an der Tochter exerziert. Das zeigen sehr deutlich die heutigen Phantasien vom überall umherschwirrenden Begehren, oft materialisiert in der Figur des Schokoladenonkels oder des Mitschnackers. Die gab es im völkischen Kollektiv natürlich nicht, da waren die Frauen nachts noch sicher. Die Tochter als begehrensfreie Zone scheint das Unheil magnetisch anzuziehen. Bedenkt man, dass Vergewaltiger am häufigsten in dem Hort der Unschuld, dem eigenen Reihenhaus, gefunden werden, so scheint das mystifizierende Gemauschel vom Mann im Gebüsch - niemand weiß, was er da zu suchen hat, das Mädchen schon gar nicht- doch wohl eher eine Funktion für die Eltern zu haben als für das Kind. Der beste Schutz des Mädchens - denn in der Tat bekommen die Jungen die Mitschnackergeschichten wesentlich seltener zu hören- vor der Schokolade des Onkels besteht darin, schnellstmöglich die Kontrolle der Eltern wieder aufzusuchen, welche dann später der Klassenkamerad übernimmt, der das Mädchen selbstverständlich ohne weitergehende Absichten um zehn nach Hause bringt. (2)

"Die Pubertärin lebt in dem Reservat der Dauerschonzeit.[...] Die beiden älteren Frauen mit ihren zugewachsenen, verdorrten Geschlechtsteilen werfen sich vor jeden Mann, damit er zu ihrem Kitz nicht eindringen kann. Dem Jungtier sollen nicht Liebe, nicht Lust etwas anhaben können. Die kieselsäurig erstarrten Schamlippen der beiden Altfrauen schnappen unter trockenem Rasseln wie die Zangen eines sterbenden Hirschkäfers, doch nichts gerät in ihre Fänge. So halten sie sich an das junge Fleisch ihrer Tochter und Enkelin und reißen es langsam in Stücke, während ihre Panzer vor dem jungen Blut wachen, damit kein anderer kommt und es vergiftet." (S.44)

Die vergiftete Emanzipation des NS bringt den Körper der Frau aus dem Haus in die öffentliche Sphäre, indem sie als Gebärmutter dem Vaterland die Kriegshelden schenkt.

Im postfaschistischen Deutschland scheint das Kinderkriegen eher Privatsache zu sein. Dass sich in Deutschland alle so intensiv damit beschäftigen, was das Beste fürs Kind sei, heißt jedoch nicht, dass die Kinder aufgehört haben, Verlängerung des elterlichen Körpers zu sein. Im Gegenteil: die klammernde, überfürsorgliche deutsche Mutter, die nicht zur Arbeit geht, weil fremde Leute schlecht fürs Kind sind, scheint in gewisser Weise die symbiotische Taktik ihrer NS- Mutter zu übernehmen. Zwar möchten die Töchter der NS- Mütter ihren Töchtern die Zärtlichkeit geben, die sie von ihrer Mutter nie bekommen haben. Doch die Beschneidung ihres eigenen Körpers verhindert einen Umgang mit der Tochter, die es dieser erlaubt ein narzisstisch besetztes Körperimago aufzubauen.

Die ästhetischen Folgen, die ebenso für die Nazisöhne gelten, beschreibt Pohrt folgendermaßen: "Am Gesicht dieser Generation, an ihrem Blick werden alle modischen Bemühungen zuschanden, die Jungdeutschen mögen sich kleiden oder kostümieren, wie sie wollen, sie sehen immer aus wie am Nacktbadestrand... Ganz unverkrampft und entspannt sei wie väterliche Beobachter lobend konstatieren, das Verhältnis der Geschlechter geworden, also nirgends schwüle erotische Gewitterstimmung, in der die Blitze zucken und Funken überspringen können, seltsam eunuchenhaft, kastriert und sterilisiert wirkt nicht nur das äußere Erscheinungsbild, sondern auch das Gebaren dieser Generation." (Pohrt, S.132,33)

Eine der Fragen, die Pubertäre heute so umtreibt, “Tun es die Eltern eigentlich noch oder haben sie es das letzte Mal bei meiner Zeugung gemacht?”, ist vielleicht gar nicht so naiv. Nennen sich die Eltern schon Vati und Mutti, liegt das Begehren sicherlich ganz fern. Die Ritze des elterlichen Bettes ist nur für das Kind da. Sie trennt zwei feindliche Gebiete, deshalb ist sie auch so unbequem.


(1) Man wird sich wohl darüber einig sein, dass von Gelingen in Bezug auf bürgerliche Subjektkonstitution eigentlich nicht gesprochen werden kann.

(2) Die Abwehr der Sexualität zeigt sich auch in der misstrauischen Haltung der Eltern gegenüber den Doktorspielen der Kleinen. Ich weiß noch, dass mein kleiner Freund von nebenan unser Haus jahrelang nicht betreten durfte, weil er bei einem ebensolchen Spiel in eines meiner Arztpöttchen gepinkelt hatte. Zwar hatte ich das vorher beim Arzt auch gemacht, aber ich hatte schon die Ahnung, dass das wohl was anderes sein musste. Also haben wir mit Möbeln meine Tür verbarrikadiert, bevor er seinen Pillermann rausholen konnte. Meine Eltern haben diesen wohl noch in der Küche gespürt. Wir hätten die Barrikade stärker machen sollen.


Letztes Update: 08/31/04