Im Namen der Opfer

Der erinnerungspolitische Angriff auf die Spezifik des Holocaust und den Zionismus

Überarbeitete Fassung des am 5.5.2025 in der Hamburger Studienbibliothek im Rahmen der Woche des Gedenkens gehaltenen Referats

Von Markus Heuer

Die Debatte um die Singularität bzw. Präzedenzlosigkeit1 des Holocaust ist zu weitläufig, um sie im gegebenen Rahmen auch nur annähernd vollständig abbilden zu können. Die Singularitätsthese kreist im Kern um die folgenden Aspekte: Den Bruch mit nicht nur der Zweck-Mittel-Rationalität sondern auch der Logik der Selbsterhaltung, schließlich fuhren die Züge in die Vernichtungslager noch als alle logistisch-militärischen Ressourcen an den jeweiligen Fronten gebraucht wurden. Den weltanschaulichen Charakter der nationalsozialistischen Bestimmung der Juden zum quasi kosmischen Feind, dessen angeblichem Wirken globalgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wurde. Hinzu kommt, dass die Juden als innerer Feind sich von den Menschen in den Kolonien, deren Ausbeutung man betrieb, unterschieden. Gerade dass Fehlen erkennbarer Differenz machte sie in den Augen der „Volksdeutschen“ zu einem besonders gefährlichen Feind, dessen man sich entledigen musste. Dass Juden auch in den NS-Lagern zu Zwangsarbeit herangezogen wurden, ändert hieran nichts Entscheidendes. Die Arbeitskraft, die jüdischen Zwangsarbeitern abgepresst wurde, war lediglich ein Nebenprodukt nicht zuletzt „erzieherischer“ Natur. Entsprechende Aussagen Hitlers über den Gegensatz der Juden zum Geist der Arbeit unterstreichen dies. Überdies sind die Juden als innerer Feind eben auch in den Jahren vor der offenen Vernichtung als Nachbarn, Kollegen und Freunde der als Arier konzipierten deutschen Bevölkerung ausgesondert, gekennzeichnet und gesetzlich diskriminiert worden. Dies stellt andere Herausforderungen an die Bereitschaft breiter Bevölkerungsschichten zum mindestens stillschweigenden Einverständnis und erfasst die Gesellschaft in offensichtlich anderer Weise als es koloniale Unternehmungen vermögen, bei denen die Phantasien über die zu kolonisierende Bevölkerung nicht mit unmittelbarer Erfahrung seitens breiter Bevölkerungsschichten im kolonisierenden Land selbst konfrontiert werden.

Die Erkenntnis keines der von mir aufgeführten Aspekte stellt das Leid der Opfer anderer Fälle staatlicher oder auch nichtstaatlicher massenhafter Gewaltausübung sowie von deren Angehörigen infrage oder relativiert es. Unter den Bedingungen einer Verabsolutierung der Opferperspektive droht jedoch das Absinken von Erkenntnis in Banalität. Selbstverständlich sind Leid und Tod der Opfer jeweils immer würdig des Gedenkens und der Trauer. Wem es aber in den auf Auschwitz verweisenden Worten Adornos darum geht, das „nichts Ähnliches geschehe“, dem muss es in letzter Konsequenz darum gehen, was nun tatsächlich geschehen ist, und der muss von den Tätern, ihren Vorstellungen und ihrer Praxis ausgehen.

A. Dirk Moses‘ Angriff auf die Kategorien der Unterscheidung

Anthony Dirk Moses, Genozidforscher und Mitherausgeber des Journal of Genocide Research, ist in Deutschland wohl erst mit dem 2021 veröffentlichten Text „Der Katechismus der Deutschen“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Allerdings offenbart bereits ein Blick in einen von ihm verfassten Essay im Journal of Genocide Research von 2008 begründete Zweifel daran, dass Moses primär motiviert ist von einem dem Gegenstand selbst geltenden Erkenntnisinteresse. In diesem antwortet er auf einen Text des Historikers Jeffrey Herf,2 der in einem Vergleich der nationalsozialistischen Judenvernichtung mit der Geschichte der Sklaverei in den USA die Singularität Ersterer herausgestellt hat. „Obwohl er (Herf) erklärt, dass dies wichtig sei“, womit die von Herf herausgestellten Differenzen gemeint sind, „erklärt er uns nie, warum“.3 Um das Spezifische am Holocaust wiederum anzugreifen hält er Herf entgegen, dass 60 Prozent der Gefangenen in Majdanek „an Hunger, Erschöpfung, Epidemien sowie dem Missbrauch durch SS-Wächter“ gestorben sind und bestreitet damit die Differenz zwischen dem in Kauf genommenen Tod durch Zwangsarbeit und der einkalkulierten Ausbeutung von Arbeitskraft in einem Prozess, der primär der Tötung dient.4 Schon die Wahl des Beispiels Majdanek ist auffällig, war dieses Lager doch insofern wenig repräsentativ, als im Unterschied zu diesem in den Lagern Auschwitz, Chelmno, Belzec, Sobibor und Treblinka die überwältigende Mehrheit der jüdischen Opfer bereits bei oder kurz nach ihrer Ankunft vergast wurde.

Die von Moses vorgenommene Gewichtung der auch in anderen historischen Ereignissen auffindbaren Aspekte des Holocaust im Vergleich zu jenen, die diesem spezifisch zu eigen sind, zielt, wie das suggestive Beispiel Majdanek zeigt, auf die Infragestellung der Bedeutung der Singularitätsthese. Zentral für dieses Vorgehen sind bei Moses die Begriffe Paranoia, Sicherheit und Massengewalt. Dass er als Kronzeugen gegen Herf unter anderem Adorno und Horkheimer sowie Hannah Arendt aufruft, mag seinen Ansatz in seinen eigenen Augen adeln,5 ignoriert aber, dass die Holocaustforschung seit deren unbestreitbar wichtigen Einsichten nicht stehengeblieben ist. Dies ist bei einem Autor, der etwas mehr als ein Jahrzehnt nach Veröffentlichung des eben zitierten Textes antritt, die deutsche Erinnerungskultur zu deprovinzialisieren, ein bereits in dem hier vorliegenden Text verwendeter Begriff,6 und auf den Stand der Zeit zu bringen, mindestens bemerkenswert.

Was Moses damals noch in einem geschichtswissenschaftlichen Fachorgan äußerte, bekam in „Der Katechismus der Deutschen“ deutlicher den Charakter einer politischen Intervention. Zentraler Bezugspunkt war dabei die Debatte um den von Michael Rothberg und Jürgen Zimmerer verfassten Text „Enttabuisiert den Vergleich“,7 der wenige Wochen vorher in der Zeit erschienen war.

An Moses‘ Katechismus-Text sind in diesem Zusammenhang die ersten zwei der fünf aufgelisteten Punkte relevant:

Erstens: „Der Holocaust ist einzigartig, da er die uneingeschränkte Vernichtung von Juden um deren Vernichtung willen zum Ziel hatte, im Unterschied zu den pragmatischen und begrenzten Zielen, um derentwillen andere Genozide unternommen wurden, versuchte hier ein Staat zum ersten Mal in der Geschichte ein Volk ausschließlich aus ideologischen Gründen auszulöschen.“

Zweitens: „Da er die zwischenmenschliche Solidarität beispiellos zerstörte, bildet die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch das moralische Fundament der deutschen Nation, oft gar der Europäischen Zivilisation.“8

Nicht zu bestreiten ist, dass er mit dem zweiten Punkt ein tatsächliches Problem formuliert: Die Mobilisierung der Erinnerung an den Holocaust als politische Ressource. Wir kennen Gerhard Schröders 1998 ausgesprochenen Wunsch von einem Mahnmal als „Ort, an den man gerne geht“ und auch Eberhard Jäckels Ausssage, andere Völker würden uns um dieses Mahnmal beneiden, die die Erinnerung an den Holocaust in einen dekorativen Schmuck verwandelt, der sich stolz ausstellen lässt. Auch wurde die deutsche Beteiligung am Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999 von Joschka Fischer nicht zuletzt als Lektion aus Auschwitz begründet.

Moses geht es aber um mehr als nur Kritik an der regierungspolitischen Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit, nicht zuletzt, da er weite Teile der deutschen Gesellschaft von diesem behaupteten Katechismus ergriffen sieht. Einer „ganze(n) Generation“ seien die von ihm in diesem Zusammenhang als wesentlich erachteten Punkte zu „Glaubensartikeln“ geworden. So wenig die hier vorgenommene Zeichnung der Deutschen und ihrer Gesellschaft als erinnerungspolitischer Religionsgemeinschaft mit der Wirklichkeit zu tun hat, so wichtig ist diese Charakterisierung, um sich als Erlöser vom falschen Götzenkult der Singularität in Position zu bringen. Entsprechend ist der Hinweis, wie lange er und andere bereits an der Überwindung dieser als provinziell denunzierten angeblichen Heilslehre arbeiten auch als Bewerbungsschreiben zu verstehen. Da er nun aber die eigene, alternative Heilslehre als solche nicht verstanden wissen will, kennzeichnet er die Gegenposition mittels Begriffen wie „Hohepriester“ umso beharrlicher als religiösen Kult.

Der Angriff auf das Singularitätsparadigma bzw. dessen Bedeutung wird bei Moses nicht zuletzt auf der Ebene der Kategorien geführt. Entsprechend wird der Holocaust und überhaupt Völkermord zu lediglich einer „Unterkategorie der dauernden Sicherung“9 erklärt. Diese Praxis bereits, und nicht erst der Völkermord, sollte seiner Ansicht zufolge illegal sein. Weil ihm die dauernde Sicherung das Allgemeine und Übergeordnete ist, verschwimmen ihm mitunter gar die Differenzen zwischen dem Nationalsozialismus und den Alliierten des Zweiten Weltkriegs. So schreibt er zur Völkermorddefinition der Vereinten Nationen, die diesen Begriff sprachlich logisch auf die Vernichtung von ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen begrenzt: „Diese Definition stellte jedenfalls sicher, dass ein Staat die Genozidanschuldigung durch die Behauptung umgehen konnte, sein Handeln folge politisch-strategischen Zwecken. Infolgedessen gilt unser Denken weitaus eher den Opfern des Völkermords während des Zweiten Weltkriegs als der damaligen Gesamtzahl der zivilen Verluste – den überwältigenden dreißig Millionen. Auch wenn ein Großteil dieser Gewalt bestimmten Nationalitäten ‚als solchen‘ galt, so waren sie doch auch Opfer der von allen Mächten verfolgten ‚Vernichtungsstrategien‘, sprich Opfer der dauernden Sicherung (…).“10

2008 hielt Moses noch Jeffrey Herf entgegen, dass Raphael Lemkin, dessen Forschungen zu Völkermord und NS die UN-Völkermordkonvention maßgeblich beeinflusst haben, den Begriff Genozid keineswegs für den Holocaust allein verwendet hat.11 In neueren Arbeiten ist es ihm hingegen darum zu tun, mittels des Begriffs der „dauernden Sicherung“ wie der „Massengewalt“ den des Genozids relativ zu entwerten. Seine bevorzugte rhetorische Waffe ist hierbei die Verabsolutierung der Opferperspektive.12

Ungeachtet des Nutzens, den der Begriff der Massengewalt in bestimmten Kontexten haben mag, steht er bei Moses im offenen Widerspruch zu seiner Kritik, die UN-Völkermordkonvention entpolitisiere den Genozidbegriff durch dessen Beschränkung auf die Vernichtung von nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen.13 Es ist vielmehr gerade die in Moses‘ Begrifflichkeiten angelegte Nivellierung des Unterschieds zwischen verschiedenen Formen staatlicher Gewaltpraxis, die der Betrachtung von Geschichte und Gegenwart die politische Dimension austreibt und diese in eine amorphe graue Masse verwandelt. So ist im Begriff der „dauernden Sicherung“ die Frage zur unwesentlichen Nebensache erklärt, ob staatliche Maßnahmen der Abwehr tatsächlicher Bedrohungen einer jeweiligen Zivilbevölkerung gelten oder eine spezifische Herrschaftspraxis aufrechterhalten sollen.

Multidirektionale Erinnerungsgemeinschaft vs „Opferkonkurrenz“

Michael Rothberg, Autor des mit einiger Verzögerung ins Deutsche übersetzten Buches Multidirektionale Erinnerung, widmet sich mit ähnlicher Stoßrichtung der erinnerungspolitischen Verknüpfung des Holocaust mit Aspekten der Kolonialgeschichte sowie auch der Geschichte der rassistischen Diskriminierung in der westlichen Welt. Einem Goldstandard gleich, bleibt Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung in kaum einem Text der Kritiker einer angeblichen Hyperfixierung auf den Holocaust und dessen Bedeutung in den Erinnerungsdebatten unerwähnt.

Nicht geleugnet werden soll an dieser Stelle, dass Rothberg für die Anwendung seines Konzepts mitunter durchaus sinnvolle Beispiele nennen kann. So, wenn er am Beispiel des Verhältnisses der Holocausterinnerung zur Erinnerung an die teilweise Ausrottung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in den USA verdeutlicht, wie die eigene Gewaltgeschichte des Landes im Schatten der Gewaltgeschichte eines anderen Landes, in der man selbst als Befreier eine unbestreitbar heldenhaftere Rolle gespielt hat, verkleinert werden kann.14

Ein anderes Beispiel stellt die anhand diverser Bücher und Filme von ihm porträtierte Auseinandersetzung Frankreichs mit dem Nationalsozialismus und der eigenen Kolonialgeschichte im Zusammenhang mit dem algerischen Unabhängigkeitskrieg dar, die den gesamten zweiten Teil seines Buches bestimmt. Während in der nationalen Erinnerung Frankreichs der Widerstand gegen Nazideutschland eine prominente Rolle einnahm, war Frankreich nicht nur weiterhin Kolonialmacht in Algerien, sondern setzte dort auch Nazikollaborateure wie Maurice Papon ein, der wiederum als Polizeipräfekt von Paris 1961 für ein Massaker an etwa 200 algerischen Demonstranten verantwortlich war.

Die Frage des Gelingens eines solchen Unternehmens hängt ja aber oftmals mehr noch am Wie als am Was. Und hier ist weniger die Multidirektionalität als solche das Problem als der beschwörende Charakter, mit dem diese immer wieder angerufen wird, als sei damit bereits der Inhalt samt Schlussfolgerungen geadelt. Zum einen bestreitet Rothberg zwar ausdrücklich, die Erinnerung an den Holocaust blockiere die Erinnerungen an andere Gewaltgeschichten, zum anderen jedoch behauptet er einen „hässlichen Wettstreit komparativer Viktimisierung“, der „Globalgeschichten von Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus entgegengestellt“ würde.15 Interessanterweise fällt ihm hier als Beispiel für die aggressive Abwertung der Holocausterinnerung Khalid Muhammad ein, ein Aktivist, der selbst Louis Farrakhan zu extrem erschien und dem es folglich gelang, aus der Nation of Islam rausgeworfen zu werden, während er für die „Gegenseite“ einer Holocausterinnerung, die sich als Abwertung anderer geschichtlicher Gewalterfahrungen interpretieren ließe, keine Namen zu nennen weiß.

Wie über Moses, so lässt sich auch über Rothberg nicht sagen, dass er die Spezifik des Holocaust direkt infrage stellen würde. Allerdings läuft sein Konzept der multidirektionalen Erinnerung immer wieder darauf hinaus, diese Spezifik letztlich in den Gemeinsamkeiten der Erfahrungen und Erinnerungen von Opfern staatlicher Gewalt untergehen zu lassen. Der Fokus, den er auf Verknüpfungen legt, führt ihn zu einer Historisierung der Singularitätsthese, deren Wichtigkeit er für die direkte Nachkriegszeit anerkennt. In der Gegenwart jedoch neige sich dies in Richtung einer Konkurrenz zwischen Opfergemeinschaften um ihre jeweiligen Erinnerungen und deren gesellschaftlichen Ort und Status. Der Anerkennung bspw. des spezifischen Bruchs mit nicht nur der ökonomischen Zweck-Mittel-Rationalität sondern auch den Prämissen der Selbsterhaltung im nationalsozialistischen Vernichtungswahn wohnt offensichtlich, zumindest Rothberg zufolge, die Drohung des Trennenden in der Erinnerung inne.16 Ganz im Sinne vorteilhafter plausible deniability kann so die Singularität des Holocaust, ohne dass man sie dazu bestreiten müsste, in die ihr vorgeblich zustehenden Grenzen diskursiver Bedeutung verwiesen werden.

Auch bei Rothberg geht die Priorisierung der Opferperspektive bisweilen damit einher, die Fokussierung auf Tat und Täter zu denunzieren. So hält er Yehuda Bauer vor, die Unterscheidungen, die dieser am Beispiel des Völkermords an den Armeniern trifft, übernähmen Sprache und Vorstellungswelt der Täter.17 Entsprechend fällt das Lob aus, das Moses wiederum dem multidirektionalen Erinnerungskonzept zukommen lässt. Hier sei eine Tradition am Werk, „in der jüdische wie nicht-jüdische Intellektuelle erinnern und verschiedene Formen von Rassismus und extremer Gewalt zueinander in Beziehung setzen ohne in einfache Gleichsetzungen zu verfallen oder krude Hierarchien des Leids zu produzieren.“18

Die in Rothbergs Konzept angelegte Fixierung auf die Opferperspektive resultiert eingestandenermaßen in einer Loslösung des Erinnerns von den zu erinnernden Tatsachen. Ihm zufolge „bedarf es einer gewissen Ausklammerung empirischer Geschichtsschreibung und einer Offenheit für die Möglichkeit merkwürdiger politischer Bettgesellen, damit die imaginären Verbindungen und gesellschaftlichen Gruppen erkennbar werden; diese imaginären Verbindungen sind das Wesen der multidirektionalen Erinnerung. Vergleiche sollten, wie die Erinnerung, als produktiv aufgefasst werden – als neue Gegenstände und neue Perspektiven generierend –, und nicht als Reproduktion vorab gegebener Entitäten, die anderen vorab gegebenen Entitäten entweder ‚gleichen‘ oder nicht.“19

In der von Rothberg, Moses u. a. erst hergestellten Konkurrenz zwischen der Opferperspektive und dem Erkentnisinteresse, dass sich an den Tätern und ihren Taten abarbeitet, nehmen die Genannten bequemerweise die moralisch unanfechtbare Position ein, allen Opfern gleichermaßen gerecht zu werden. Um den Preis, sich unter Verweis auf die Opfer (ein Schelm, wem hier der Begriff „Instrumentalisierung“ einfällt) gegen Kritik und Erkenntnis gleichermaßen zu immunisieren, schafft man nicht nur eine imaginäre Gemeinschaft des Leids, sondern setzt zudem den politischen Gegner dem Druck aus, sich für die Missachtung der Opfer rechtfertigen zu müssen, die schon in der Unterscheidung selbst bzw. der Bedeutung, die man ihr beimisst, angelegt sei. Die Frage, ob den Opfern nicht umgekehrt darin Unrecht widerfährt, dass man ihr je konkretes Schicksal in diffusen Allgemeinbegriffen aufgehen lässt, fällt so notwendig aus dem Blick.

Vorwärts in die Vergangenheit

Nicht unwesentlich ist bei alldem der Widerspruch, einerseits, wie Moses in seinem Katechismus-Text, die eigene Position als auf der Höhe der Zeit befindlich darzustellen oder wie Rothberg darauf zu verweisen, dass die Forschung über die fetischhafte Singularitätsthese inzwischen hinaus sei, sich dafür andererseits jedoch maßgeblich auf Autoren zu berufen, deren Auseinandersetzung mit dem Holocaust weitenteils stattfand, bevor überhaupt dessen Spezifik erforscht war. Auf die Berufung auf Horkheimer, Adorno und Arendt, die Moses gegen Herf ins Feld führt, habe ich hingewiesen. Auch beruft er sich auf Franz Neumann und seine Kennzeichnung der NS-Herrschaft als „rassischen Imperialismus“.20 Bei Rothberg heißen die Kronzeugen neben Arendt Aimé Césaire und W.E.B. Du Bois. Der Text „The Negro and the Warsaw Ghetto“ von Letzterem dient Rothberg zur Verdeutlichung der universalistischen Lehren, die aus dem historischen Geschehen zu ziehen seien und spricht von dem, was Du Bois aus seinem Besuch in Warschau 1949 über die Situation der Schwarzen in den USA gelernt hat.21 Allerdings legt Du Bois‘ Text keineswegs nahe, dass er die spezifische Situation der Juden unter NS-Herrschaft erfasst hätte, wird doch seine Beschreibung des Aufstands im Warschauer Ghetto als Widerstand gegen „oppression and wrong in a day of total frustration“ dem tatsächlichen Geschehen kaum gerecht.22

Aimé Césaire ist insofern interessant, als er 1956 in einem Brief an Maurice Thorez seinen Austritt aus der französischen KP unter anderem mit deren Schweigen zum sowjetkommunistischen Antisemitismus begründete.23 Den NS wiederum hat Césaire nur insofern als singulär verstanden, als hier außereuropäisch erprobte koloniale Herrschaftstechniken innereuropäisch Anwendung fanden. Überdies universalisiert Césaire den NS, indem er das als spezifisch im europäisch-weißen Kontext Wahrgenommene und somit Empörende darin verortet, dass hier das koloniale Verbrechen an anderen Weißen begangen wurde. „Ja, es wäre der Mühe wert, das Verhalten Hitlers und des Hitlerismus einer detaillierten klinischen Studie zu unterziehen und dem ach so distinguierten, ach so humanen, ach so christlichen Bürger des zwanzigsten Jahrhunderts mitzuteilen, daß er in sich einen Hitler trägt, von dem er nichts weiß, daß Hitler in ihm haust, daß Hitler sein Dämon ist, daß er, wenn er ihn rügt, einen Mangel an Logik verrät, und daß im Grunde das, was er Hitler nicht verzeiht, nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen am Menschen, daß es nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern daß es das Verbrechen gegen den weißen Menschen ist, daß es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonisatorischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.“24

Ähnlich abwehrend wie zur Spezifik des Holocaust verhält sich wiederum Moses zur Unterscheidung von Rassismus und Antisemitismus. Der vierte der fünf von ihm aufgelisteten Punkte des Katechismus-Textes lautet entsprechend: „Der Antisemitismus ist ein Vorurteil und Ideologem sui generis und er war ein spezifisch deutsches Phänomen. Er sollte nicht mit Rassismus verwechselt werden.“ Um eben diese Unterscheidung zu bestreiten, führt er den Erfinder des Begriffes Antisemitismus, Wilhelm Marr, an, um dem Leser die jetzt nicht so bahnbrechende Erkenntnis zu unterbreiten, dass Antisemiten eben oftmals auch Rassisten sind. Eben das die Frage des Antisemitismus bzw. der gesellschaftlichen Präsenz von Juden von den Antisemiten „im Kontext einer von Rassentheorie geprägten Weltsicht (stand)“,25 soll nun Pate dafür stehen, dass dem Antisemitismus keine Spezifität zukomme. Entsprechend sei auch der unter anderem von Dan Diner vorgebrachte Sachverhalt, dass es sich beim Holocaust im Gegensatz zu den begrenzten Zielen des Kolonialrassismus um das Resultat eines ideologisierten Hasses handelte, der sich selbst Ziel war und daher keinerlei Begrenzungen kannte, lediglich als Teil einer Sakralisierungsstrategie zu verstehen.26

Vermutlich ist auch Moses schon zu Ohren gekommen, dass der Antisemitismus sich die Juden als verschwörerische Gemeinschaft vorstellt, die dem Finanzkapital verbunden ist und durch den Geist der Abstraktion die eigene, kulturschaffende Gemeinschaft zersetzt, während der Rassismus vielmehr auf der Vorstellung einer größeren Naturnähe ergo Primitivität anderer „Rassen“ beruht. Entsprechend wird im Antisemitismus anderes gefürchtet und bekämpft als im Rassismus und kann der Antisemit sich als Rebell gegen die Herrschaft missverstehen, während er doch umso konsequenter an deren Vollzug mitwirkt. Allerdings steht angesichts seines Kampfes gegen Unterscheidungen zu bezweifeln, dass Moses überhaupt in der Lage ist, Differenz anders denn hierarchisch zu denken.

Der zionistische Störenfried der universalistischen Leidens- und Opfergemeinschaft

Auf die Gegenwart gerichtet wiederum dient der Angriff auf das als von oben kommandiert wahrgenommene Verständnis des Holocaust der Delegitimierung des jüdischen Staats. Ausgerüstet mit einer Sicht auf den sogenannten Nahostkonflikt, in der es jüdische Geschichte vor der Gründung Israels nur in Form der diese Gründung vorbereitenden zionistischen Landnahme gab, wird zudem ein Bild von den Verhältnissen im Nahen Osten gezeichnet, in dem die arabisch-palästinensische Bevölkerung lediglich als den Zionismus erleidendes Opferkollektiv vorkommt. Die Geschichte der Juden in der arabisch-islamischen Welt, aus der die Mehrheit der in Israel lebenden Juden stammt, ebenso wie die Situation, in der sich dort auch die nichtjüdischen Minderheiten, ob nun sexuelle, ethnische oder religiöse, seit der nebenbei bemerkt überaus imperialen Verbreitung des Islam befinden, stellt indessen einen blinden Fleck dieses selektiven Universalismus dar.

Zu diesem Zweck wird jedes Beharren auf der Spezifität des Antisemitismus und dessen Differenz zum Rassismus als ein Beharren auf Partikularität verstanden und denunziert. Es kommt ein bischen daher wie das Werben von Anhängern der kommunistischen Weltrevolution, die den Juden antrugen, statt dem Zionismus sich doch der Internationale anzuschließen, die den Antisemitismus samt dessen Voraussetzungen nach ihrem Sieg beseitigen würde. Nur gab es diese Hoffnung, wie wenig begründet sie im historischen Rückblick auch erscheinen mag, tatsächlich. Entsprechend gehört nach dem Holocaust schon auch eine Portion Bösartigkeit dazu, ausgerechnet den Juden anzutragen, sie sollten sich verhalten, als sei der Universalismus bereits allgemein verwirklicht.

Einer der immer wiederkehrenden Angriffspunkte im Zusammenhang mit den hier behandelten erinnerungspolitischen Interventionen ist die angeblich bedingungslose Solidarität, die Deutschland Israel politisch zukommen lasse. Da wird dann auch mal aus Angela Merkels relativ unverbindlichem, nach ihrem Amtsantritt 2008 in der Knesset abgegebenem Bekenntnis, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson, bei A. Dirk Moses‘ die „Staatsräson der bedingungslosen Sicherheitsgarantie“.27 Überdies, so behauptet Moses unter Verweis auf Ussama Makdisi, impliziere dies die „andauernde Unterdrückung von Palästinensern“ als „zentralem deutschen Auftrag“.28 Die nicht so recht in dieses Bild passenden finanziellen Unterstützungsleistungen Deutschlands an die Palästinenser, zu denen unter anderem die Zahlung von einer Milliarde Euro an die UNRWA zwischen 2019 und 2024 und damit die Kofinanzierung antisemitischer Indoktrinierung in palästinensischen Schulen29 gehört, bleibt entsprechend unerwähnt. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen zur Islamischen Republik Iran, die für diese von weit größerer Bedeutung sind als für Deutschland, sind angesichts der iranischen Vernichtungsdrohungen gegen Israel kaum als Ausdruck bedingungsloser Solidarität mit dem jüdischen Staat zu verstehen. So berichtet das Auswärtige Amt bzgl. 2024 von einem Anstieg der Iran-Exporte um 6,3 Prozent ggü. dem Vorjahr auf einen Wert von 1,28 Mrd. Euro.

Was sich wiederum als Katechismus der Palästinenser bezeichnen ließe, bietet der von Moses angeführte Ussama Makdisi dar. Die Palästinenser erscheinen hier als „der Wiedergeburt philozionistischer liberalwestlicher Moralität“ geopfert. Wie auch bei Moses ist hier von einer „Hierarchie des Leids“ die Rede, die natürlich hegemonial die Palästinenser ausschließe, an denen wiedergutgemacht würde, was Europäer den Juden angetan hätten. Ihm zufolge ist der „koloniale Zionismus angetreten um einen ethnoreligiösen Staat in einem multireligiösen Land zu errichten.“30 Nicht nur war der multireligiöse Charakter des historischen Palästina alles andere als hierarchie- und diskriminierungsfrei, auch ist der an Israel gerichtete Vorwurf, ein ethnoreligiöser Staat zu sein, gerade angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Israels arabisch-islamischer Umgebung, schlicht falsch adressiert, kann Israel im nahöstlichen Vergleich doch als Oase der Multikulturalität gelten. Die zur Dämonisierung Israels notwendige Ausblendung der Situation von Minderheiten in den arabischen Staaten produziert so letztlich ihre eigene „Hierarchie des Leids“.

Nicht weniger fragwürdig ist die gegen Jeffrey Herf von Moses angerufene Autorität der Vereinten Nationen ausgerechnet im Verweis auf die Verurteilung Israels als rassistischem Gebilde auf der UN-Antirassismuskonferenz 2001 in Durban,31 trug diese doch unübersehbar die Handschrift der Staaten der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) sowie speziell des Iran, in dem auch eines der Vorbereitungstreffen stattfand. Von diesem waren sowohl Vertreter der im Iran verfolgten Religionsgemeinschaft der Bahai wie auch der Kurden ausgeschlossen.32 Zum einen wurde jegliche Thematisierung des Antisemitismus im Vorfeld der Konferenz blockiert, indem bspw. von Seiten der arabischen Staaten die Pluralisierung des Begriffes Holocaust betrieben und auf der Erwähnung der „rassistischen Praktiken“ des Zionismus bestanden wurde, sobald von Antisemitismus nur die Rede war.33 Zum anderen hat sich in Gestalt der OIC-Staaten der Bock schlicht zum Gärtner erklärt, ohne dass dem entscheidend widersprochen worden wäre, gäbe doch, wie erwähnt, die Behandlung von Minderheiten in den arabischen Staaten den Vereinten Nationen genügend Anlass, tätig zu werden. Dies gehört jedoch seit langem schlicht zum normalen Wahnsinn der Vereinten Nationen, in deren Frauenrechtskommission auch schon mal Vertreterinnen des Iran berufen werden.

Wohin die von Michael Rothberg popularisierte Multidirektionalität führt, wenn von Israel die Rede ist, offenbarte dieser vielleicht am deutlichsten in dem Text „From Gaza to Warsaw“.34 Hier werden ausführlich zahlreiche Beispiele dafür behandelt, wie die Situation, der sich die Juden im Warschauer Ghetto gegenüber sahen, mit der Situation in Gaza verknüpft werden kann und wird. Anhand des Beispiels einer Videoinstallation von Alan Schechner mit dem Titel „The Legacy of Abused Children. From Poland to Palestine“ sinniert Rothberg über das Potential der Überwindung gegensätzlicher und konkurrierender Ansprüche auf die Position des Opfers zugunsten einer Reflektion über die geteilte „psychological condition of victimhood“.35 Die Videoinstallation, von der die Rede ist, blendet von dem Foto eines jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto über in ein Foto von einem von israelischen Soldaten gefangen genommenen palästinensischen Jungen. Dadurch, dass in beiden Fotos dem jeweils darauf zu sehenden Jungen das Foto des anderen in die Hände montiert wurde, entsteht mittels eines dauernden Zooms eine permanente Überblendung der Fotos ineinander. Eben hierdurch, so Rothberg, werden die auf Ursprünglichkeit des eigenen Leids und der eigenen Ansprüche begründeten konkurrierenden Positionen unterlaufen.36 Dieser Interpretation mag entgegenkommen, dass Kinder sich besser als Erwachsene eignen, um Unschuld zu symbolisieren. Zum Verschwinden gebracht werden so die jeweiligen politischen Situationen, die dem Bildinhalt zugrundeliegen. Die Entpolitisierung im Blick auf das Leid und in seiner künstlerischen Verarbeitung dient wiederum einer politischen Absicht. Bei Schechner, dessen Erläuterungen Rothberg referiert, wie auch bei Rothberg selbst, wird mittels des Narrativs der Opfer der Opfer der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern zu einem, der schlicht aus der europäischen Geschichte in eine andere Region verpflanzt wurde. Dass Schechner immerhin die Israelis auch als Opfer dieser europäischen Geschichte inkludiert,37 ändert hieran nichts Grundsätzliches, da im Resultat die palästinensische Gesellschaft als eine erscheint, über die, quasi über Nacht, der Zionismus hereingebrochen wäre. Verantwortung kommt unter den so geschaffenen Voraussetzungen nur einer Seite zu, nämlich der, der Rothberg vorhält, den Holocaust zu instrumentalisieren.38

Überhaupt erweist sich das Konzept der Multidirektionalität bei Rothberg als ein mit Scheuklappen ausgestattetes. Dass Hassan al-Banna, Gründer der ägyptischen Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Zweig, die Hamas, am 7. Oktober 2023 das größte Massaker an Juden seit 1945 begangen hat, angab, vom Aufstieg des europäischen Faschismus allgemein sowie des Nationalsozialismus im Besonderen inspiriert zu sein, entgeht seiner Multidirektionalität ebenso wie die Tatsache, dass Amin el-Husseini nicht nur ein entfernter Verwandter Yassir Arafats war, sondern vielmehr dessen politischer Ziehvater. El-Husseini rekrutierte für die Nazis, neben seiner Tätigkeit als Leiter der arabischsprachigen Abteilung des Nazipropagandasenders in Zeesen, bosnisch-muslimische SS-Einheiten und war mitverantwortlich für diverse Massaker an Juden in Palästina in den 1920er und 1930er Jahren. Bei diesen wurden gezielt nichtzionistische Juden angegriffen, da von ihnen eine geringere Gegenwehr zu erwarten war.

Rothberg, der sich mit Jürgen Zimmerer gegen das angebliche Vergleichstabu gewandt hat, gehört überdies gemeinsam mit Moses und diversen anderen selbsternannten „scholars of the Holocaust and antisemitism“ zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes, der wohlgemerkt den Vergleich, nicht die Gleichsetzung, des Hamas-Massakers mit dem Nationalsozialismus, nun ja, tabuisierte.39 Nachdem die Banalität festgehalten wurde, dass es sich beim NS-Genozid um eine staatliche Unternehmung unter Mitwirkung einer willigen Zivilgesellschaft gehandelt habe, wird auf Vertreibung, Besatzung und Gaza-Blockade als Hintergrund für das Hamas-Massaker verwiesen. Dass die sogenannte Gaza-Blockade seit dem israelischen Abzug 2005 in Reaktion auf die permanenten Raketenangriffe der Hamas errichtet wurde und die Forderung nach ihrer Aufhebung der Forderung nach freiem Zugang zu militärischem Gerät für eine antisemitische Terrororganisation gleichkommt, spielt für die Unterzeichner ebensowenig eine Rolle wie die Geschichte der prezionistischen jüdisch-arabischen Beziehungen, deren Kenntnis helfen könnte, zu verstehen, warum in relevanten Teilen der arabischen Welt die antisemitische Propaganda der Nazis auf fruchtbaren Boden fiel. Überdies würde ein Blick in die Gründungscharta der Hamas erweisen, dass hier nicht nur, wie bei den Nazis, die Protokolle der Weisen von Zion zur verlässlichen Quelle ernannt werden, sondern das den Juden zugedachte Schicksal sich bei Nazis und Hamas vollkommen gleicht. Die Gründung Israels mag von den arabischen Juden anfänglich distanziert wahrgenommen und international vor allem als Konsequenz aus der nationalsozialistischen Judenvernichtung unterstützt worden sein, im Effekt aber war sie auch die Korrektur des inferioren Status, den die arabisch-islamische Welt den Juden zuwies. Die Parole „Die Juden sind unsere Hunde“ an jerusalemer Häuserwänden in den 1920er Jahren kündete davon, dass erhebliche Teile der palästinensischen Araber wollten, dass sich an diesem Status nichts ändert. Und was die willige Zivilgesellschaft betrifft, von der bzgl. des NS die Rede war, lässt sich feststellen, dass eine Mehrheit der Palästinenser sowohl im Gaza-Streifen als auch im Westjordanland das Hamas-Massaker begrüßt hat,40 was nicht zuletzt der mittels internationaler Hilfsgelder finanzierten Erziehung in UNRWA-Schulen geschuldet sein dürfte.

Gegen manchen Antisemitismus: Von der Unschuld des globalen Südens

Überhaupt ist bei Rothberg wie Moses die Neigung festzustellen, sich weniger um den Antisemitismus zu sorgen als um die, die in den Verdacht geraten, diesem Ausdruck zu verleihen. Im Rahmen der Auseinandersetzungen um die documenta 15 in Kassel vor ca. drei Jahren reihte sich Rothberg entsprechend unter denen ein, die die Auseinandersetzung um den Antisemitismus dieser Veranstaltung auf das vom indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi zu verantwortende Bild „People‘s Justice“ reduzierten.41 Allerdings folgte dem kaum vermeidbaren Eingeständnis, dass es sich hier um antisemitische „Kunst“ handele auch gleich die angedeutete Rücknahme durch die Anführungszeichen, in die er das Adjektiv „Jewish“ bei der Beschreibung der Darstellungen von Juden einrahmte sowie der Hinweis auf eine mit der Kritik verbundene „Skandalproduktion“ („scandal-mongering“) und der Vorschlag, den öffentlichen Raum in Deutschland doch zum Schauplatz einer „open-ended discussion without borders“ zu machen, in der auch über den Israel-Palästina-Konflikt diskutiert werden solle. A. Dirk Moses wiederum, der in der Tendenz immer noch eine Schippe drauf legt, sieht, ohne sich auch nur ansatzweise mit der inhaltlichen Kritik zu beschäftigen, in den „anhaltenden Angriffe(n) auf die documenta fifteen“ wiederum nur einen weiteren Ausdruck des behaupteten hiesigen Katechismus.42

Tatsächlich bot die documenta 15 noch einiges mehr an Antisemitismus in Form bspw. einer Bilderserie des Künstlers Mohammed Al Hawajri, dessen ausgestellten Werken eine eigene Art von Multidirektionalität zukommt. So adaptierte er Picassos Werk Guernica, mit dem der Künstler den deutschen (und italienischen) Luftangriff auf die spanische Stadt im Jahre 1937 verarbeitete, in seiner „Guernica Gaza“ betitelten Bilderserie und identifizierte so die israelische Luftwaffe mit der der Nazis. In einem weiteren Bild adaptierte er ein Werk des jüdischen Künstlers Marc Chagall, der unter anderem die Fenster in der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem gestaltete, in ähnlicher Weise. Der vielleicht krasseste Fall antisemitischer Propaganda betrifft das Projekt „Tokyo Reels Film Festival“ des Kollektivs Subversive Film, das eine Schau aus propalästinensischen Propagandafilmen erstellt hat. Nicht nur, dass diese Filme offen Terror glorifizieren, ist von Brisanz, sondern auch wie das Projekt überhaupt an diese Filme gelangt ist. Diese wurden ihnen von einer japanischen Gruppe durch Vermittlung von Masao Adachi übergeben, ehemaliges Mitglied der Japanischen Roten Armee, die für das erste Selbstmordattentat in der Geschichte Israels in der Eingangshalle des Flughafens von Lod 1972 verantwortlich war. Es wäre also eine Menge mehr zu diskutieren gewesen, als lediglich das Bild „People‘s Justice“. Die Hochschule für Bildende Künste Hamburg hielt an der bereits vor Eröffnung der documenta erteilten Gastprofessur für Reza Afisina und Iswanto Hartono, Mitglieder des für die documenta federführend verantwortlichen indonesischen Kollektivs ruangrupa, trotz Protesten fest. Gedankt wurde es, zugegeben wenige Monate nach Beendigung der Gastprofessur, im Oktober 2023 in Form von Likes der Beiden für ein Video von einer antisemitischen Demonstration, die das Hamas-Massaker feierte.43

Zum Standardrepertoire der Verteidigung Angehöriger des Globalen Südens gegen Antisemitismusvorwürfe gehört es, den Kritikern rassistische Motive zu unterstellen. Nicht leugnen lässt sich, dass die Wirklichkeit dieser Strategie zum Teil entgegenkommt. Tatsächlich wird der Antisemitismusvorwurf zwischen einer antizionistisch-antisemitischen Linken und einer rassistisch-migrationsfeindlichen Rechten interessiert hin- und hergeschoben. Fokussiert wird jeweils der Antisemitismus des anderen Lagers und über dessen Kritik legitimiert bzw. camoufliert sich dann der eigene. In 9 von 10 Fällen dient die Rede vom „importierten Antisemitismus“ ja tatsächlich der Forderung nach einer konsequenteren Abschiebepraxis. Der Internationale der Feinde des jüdischen Staates wiederum dient der Hinweis auf den jeweils autochthonen Antisemitismus in den Staaten des globalen Nordens der (Selbst)versicherung, „wirklichem“ Antisemitismus entschieden entgegenzutreten. Der logischen Schlussfolgerung, die obsessive Fixierung auf das Wirken und den Charakter des einzigen jüdischen Staates ließe sich anders denn mit Antisemitismus nicht erklären, kann so entgegengehalten werden, der antizionistische Eifer sei nicht zuletzt auch Ausdruck der Besorgnis um den Kampf gegen den tatsächlichen Antisemitismus, dem durch eine Identifizierung von Antizionismus und Antisemitismus nur Schaden zugefügt werden könne. Das man ausgerechnet diesem Staat das Existenzrecht bestreitet, will ja irgendwie progressiv gerechtfertigt werden und anders lassen sich die jüdischen Mitstreiter, die der dominierende nicht-jüdische Teil der antizionistischen Internationale als rhetorische „human shields“ nicht missen will, kaum in der Bewegung halten. Entsprechend zahlreich findet sich das Argument, eine kritisierte Position könne schon deswegen nicht antisemitisch sein, weil sich Juden finden, die diese auch vertreten, als gehörte nicht zur Problematik jeder Diskriminierungsgeschichte, dass Teile der jeweils betroffenen Gruppe die ihnen zugefügte Diskriminierung verinnerlichen und reproduzieren.

Auch Jürgen Zimmerer sieht hierzulande den Versuch, „Debatten über die Umstände der Staatsgründung Israels zu unterbinden“ im Zusammenhang mit der Verdrängung anderer Aspekte deutscher Gewaltgeschichte am Werk. Die vordergründige Plausibilität des Arguments liegt hier darin begründet, dass tatsächlich dieselbe Regierung, die bspw. den BDS-Beschluss verantwortet hat, der rechtsunverbindlich empfiehlt, Künstlern und Wissenschaftlern, die im Rahmen der antiisraelischen Boykottbewegung agieren, keine öffentlichen Gelder und Räume zur Verfügung zu stellen, sich gleichzeitig weigert, Entschädigungsansprüche Namibias angemessen anzuerkennen. Ein kausaler Zusammenhang wird jedoch auch hier mehr angedeutet als belegt. Zimmerer fährt dann wie folgt fort: „Dass ausgerechnet die Lehre aus dem ‚Rassenstaat‛ darin bestehen soll, Menschen aufgrund ihrer Meinung und de facto ihrer Herkunft aus der Diskussion, ja aus der Gemeinschaft auszuschließen, ist an Perfidität kaum zu überbieten.“44 Das mit der „Gemeinschaft“ ist insofern eine Luftnummer, als jede Gruppe von Menschen, die sich als solche bezeichnen ließe, auf Ein- und Ausschlussmechanismen beruht und diese eben mal mehr und mal weniger vernünftig sich begründen lassen. Auch sollte sich von selbst verstehen, dass diese Mechanismen vor geäußerten Meinungen nicht Halt machen. Was nun die angeführte Herkunft als für den Ausschluss relevantes Kriterium betrifft, stattet sich Zimmerer dadurch mit der willkommenen plausible deniability aus, dass er die „Gemeinschaft“ von der er spricht, nicht näher bestimmt, müsste er doch sonst erklären, wie Künstler von ruangrupa in Hamburg zu einer Gastprofessur gelangt sind und warum bspw. Ahmad Mansour oder Seyran Ateş nicht aus den von Zimmerer bemängelten Diskussionen ausgeschlossen werden.

Noch einmal deutlicher fasst Moses den von ihm behaupteten Konsens in seinem Katechismus-Text als einen von amerikanischen, britischen und israelischen Eliten mit der deutschen Regierung ausgehandelten. Gegen den naheliegenden Vorwurf, hier in deutlicher Nähe zu antisemitischen Verschwörungstheorien zu argumentieren, kommt ihm eine Autorin aus einem von Zimmerer herausgegeben Sammelband zu Hilfe, dem auch das vorhergehende Zitat von Zimmerer selbst entnommen ist. Als gehörte es nicht elementar zum linken Antisemitismus, die Rede von den Juden zu vermeiden und entsprechend zu camouflieren, wirft Sonja Hegasy den Kritikern von Moses vor, schlicht nicht lesen zu können, schließlich habe er von israelischen statt jüdischen Eliten gesprochen.45

Wie zahlreiche Autoren, die sich in diesem Sinne vor dem Hintergrund des sogenannten „Neuen Historikerstreits“ zum Nahostkonflikt und den hierüber geführten Debatten äußern, ist auch Hegasy von Sorge umtrieben. Diese gilt der jüdisch-arabischen Solidarität, die sie allerdings, abgesehen von einem im letzten Satz dieses Textes abgegebenem Federbekenntnis, ausschließlich als eine Solidarität möglichst israelkritischer Juden mit arabisch-muslimischen Opfern zu verstehen scheint. „Jüdische Solidarität mit arabisch-muslimischen Opfern scheint arabo- und islamophoben Kreisen heutzutage ein Dorn im Auge zu sein. Daher konstruieren sie eine (infame) Opferkonkurrenz zwischen Araber:innen bzw. Muslim:innen auf der einen Seite sowie Juden und Jüdinnen auf der anderen.“ Dieser Opferkonkurrenz kann offensichtlich nur durch Gleichheitszeichen begegnet werden, indem mit der ihrem „Freund und Kollegen“ Ahmad Badawi entlehnten Formulierung von den Muslimen als neuen „inneren Feinden“ suggeriert wird, die Situation von Muslimen heute gleiche der von Juden im Nationalsozialismus.46

Dem behaupteten Generalverdacht, Muslime seien Antisemiten, wird tendenziell mit dem Mittel der unbedingten Unschuldsfeststsellung entgegengetreten. Nun ist zu diesem Generalverdacht zu sagen, dass er in der AfD und ihr nahestehenden Kreisen durchaus verbreitet ist. Aber es reicht ja nicht, dies zurückzuweisen. Vielmehr wird der Kampf um die Definition des Begriffes selbst geführt. Hauptangriffspunkt ist hierbei die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der vorgeworfen wird, sie delegitimiere Kritik an Israel grundsätzlich als antisemitisch. Nun werden in besagter Arbeitsdefinition zwar tatsächlich zahlreiche Beispiele für eine als antisemitisch aufzufassende Kritik an Israel genannt, nur wird diese, sofern sie „mit der an anderen Ländern vergleichbar ist“,47 entgegen der Lesart, die die Gegner dieser Definition etablieren wollen, ausdrücklich als nicht antisemitisch bezeichnet. Bewaffnet hat man sich in diesem Kampf mit der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA), die in direkter Reaktion auf die IHRA-Arbeitsdefinition formuliert wurde. In der JDA jedoch herrscht eben die Unklarheit, die der IHRA-Arbeitsdefinition vorgeworfen wird. Zwar stellt die JDA fest, dass den Juden das Recht zu bestreiten, in Israel als Juden zu leben, antisemitisch ist. Gleichzeitig jedoch gilt dieser Erklärung nicht als antisemitisch, sich für andere staatliche Formen des Zusammenlebens zwischen Fluß und Meer, bspw. in einem binationalen Staat, also letztlich für die Beseitigung Israels als jüdischem Staat, zu engagieren. Da es keine vergleichbaren internationalen Bewegungen zur Beseitigung anderer Staaten gibt und die Erklärung auch nicht anführen kann, welchen Staatsbevölkerungen sie sonst noch das Recht auf politische Selbstbestimmung zu verweigern gedenkt, liegt es in der Logik dieser Unternehmung, auch die Anwendung doppelter Standards bei der Kritik am jüdischen Staat vom Verdacht des Antisemitismus freizusprechen. Immerhin ist der Verweis auf die jeweils zu berücksichtigende Intention, die hinter einer Aussage steht, wie auch immer man diese bestimmen will, bzw. auf die Identität des jeweiligen Sprechers, zumindest insofern praxisbezogen, als mittels dieses Hinweises weiterhin jüdische Antizionisten und Kritiker Israels als rhetorische Schutzschilde verwandt und Menschen aus dem globalen Süden als konfliktbedingt schuldunfähig gelten können.48 Moses und Rothberg zählen, neben diversen am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung Beschäftigten, zu den Unterzeichnern der Erklärung.49

Fazit

Um abschließend den Bogen zurückzuspannen zum Nationalsozialismus und dem Gedenken an dessen Opfer: Dieser wurde nicht niedergerungen durch eine die Gewalt ein für alle mal beendende Weltrevolution. Zu seiner militärischen Niederlage bedurfte es einer Gewaltausübung, zu der nur Staaten in der Lage waren, deren Fundamente auf eben dieser Gewalt beruhten. Hieraus nun zu schließen, die Differenz zwischen diesen Mächten und dem NS sei keine von Bedeutung und man könne sie aufheben in einem Begriff von Massengewalt, der bei Moses so diffus daherkommt, dass er zur politischen Begriffsbildung denkbar ungeeignet ist, tut auch den Opfern staatlicher Gewalt, in deren Namen diese Diffusion daherkommt, keinen Gefallen. Der Zustand der Welt und die Situation der Menschheit ist unverändert prekär und der Urgrund, auf dem der NS erwachsen konnte, das Kapitalverhältnis, besteht weiterhin fort. Ebenso wie Deutschland, dass seine Erinnerungspolitik mitunter wie ein Prestigeobjekt zu handhaben scheint. Gleichzeitig vollzieht sich im Schatten dieser Vergangenheitsbewältigung die offene Infragestellung des Asylrechts sowie ein Wahlkampf, in dem es scheint, als sei das Werben um die konsequentestmögliche Abschiebepolitik olympische Disziplin. Auch sprechen die jüngsten Wahlergebnisse der AfD eine deutliche Sprache. Darin hat Jürgen Zimmerer ja uneingeschränkt Recht, dass die Solidarität mit Israel als einzige Konsequenz aus dem Nationalsozialismus zu wenig sei.50 Man wünschte sich nur, er würde der offenen Infragestellung dieser Solidarität als Konsequenz aus der deutschen Geschichte, wie sie prominent von Moses (und subtiler auch von Rothberg) sowie deren Mitstreitern betrieben wird, gelegentlich widersprechen.

Kritisches Gedenken setzt Genauigkeit gegenüber dem historischen Geschehen voraus, dessen gedacht wird. Während hierbei Moses die staatlichen Gedenkrituale mit einer Stoßrichtung kritisiert, die darauf hinausläuft, um den Holocaust doch nicht so ein Gewese zu machen, scheint Rothberg mitunter die Zielgenauigkeit des Denkens multidirektional durcheinander zu geraten. Dabei ist Verzweiflung darüber, dass Nachkommen von Genozidopfern keine Gerechtigkeit widerfährt, ob es sich nun um Armenier handelt oder Herero und Nama, mehr als berechtigt. Dort, wo diese Verzweiflung sich an Israel abreagiert, mag zwar die Teilhabe an der vielleicht letzten derzeit verbliebenen globalen politischen Bewegung locken. Erkauft ist diese jedoch damit, dass die Ungenauigkeiten in der Kritik am staatskonformen Gedenken sich in den die Geschichte der Juden im Nahen Osten betreffenden Ungenauigkeiten und Auslassungen notwendig spiegeln.

Ob beabsichtigt oder nicht fügen sich die hier behandelten Autoren doch geschmeidig ein in die Prämissen einer antiwestlichen Linken, der die Subjekte, deren Partei zu ergreifen man vorgibt, lediglich Mitglieder ihrer jeweiligen Gemeinschaft und übergeordnet einer globalen Gemeinschaft von Opfern sind. Man muss die Gewaltgeschichte des Westens nicht leugnen, um die hierin liegende Entsubjektivierung seiner historischen Opfer und ihrer Nachkommen problematisch zu finden. Die moralische Position, die so eingenommen wird, ist nicht die einer besseren Welt, wie auch immer man diese definieren mag, sondern die der historisch Unterlegenen, die nicht deswegen schon als Statthalter eines Bruchs mit der dem zugrundeliegenden Logik taugen. Auch ist der graduell je verschieden von den hier behandelten Autoren hofierte und betriebene Antizionismus weniger ein Bruch mit der Logik von Staat und Kapital als vielmehr das denkbar größte Einverständnis mit dieser. Auf dieser Grundlage bleibt dann der kritische Anspruch dieser Form von Erinnerungspolitik auch nicht auf halbem Wege stehen, sondern weist vielmehr in eine völlig falsche Richtung.