Israel-Solidarität und Materialismus

Anders Kühne, Hamburger Studienbibliothek

Gegenwärtige Erscheinungen des Antisemitismus in der westlichen Öffentlichkeit vermitteln widersprüchliche Eindrücke: Während einerseits der offene Judenhass präsent ist wie seit 1945 nicht mehr und die allenthalben geäußerten Begründungen, warum Israel an allem schuld sei, ständig noch ein bisschen irrer zu werden scheinen als das, was man schon kannte, läuft bei näherer Betrachtung doch alles immer auf die sattsam bekannten und längst kritisch durchdrungenen Muster hinaus. Traditionell linke ›antizionistische‹ Codes sind weitgehend an den Rand gedrängt, und gleichzeitig ist die Ablehnung Israels vielerorts offenbar so selbstverständlich, dass nach Gründen gar nicht mehr gefragt wird. Aber stimmt das so überhaupt? Und wie stellt man das fest, wenn so etwas wie liberale Öffentlichkeit nur noch rudimentär existiert und das »Gerücht über die Juden« aus dem allgemeinen Sumpf aus Desinformation und Fake News kaum herausragt?

Ausgehend von ein paar »Basisbanalitäten« wird der Versuch einer Verortung des Antisemitismus in der aktuellen Krise bürgerlicher Herrschaft unternommen.1

Basisbanalitäten

Der Abschnittstitel bezieht sich auf ein über zwanzig Jahre altes Papier der Hamburger Bad Weather Antifa, das aus der damaligen HSB heraus entstanden ist. Die Bad-Weather-Homepage ist zwar längst aus dem Netz verschwunden, der Text ist aber bei Nadir noch zu finden – zum Hintergrund siehe also die Einleitung dort.2

Die hier folgenden Basisbanalitäten sind allerdings nur vier, und sie dürften, mehr wegen des Publikums, weniger kontrovers sein.

1. Solidarität mit Israel heißt negativ denken

Das scheint nun wirklich so banal zu sein wie nur irgendwas – schließlich entsteht Israel-Solidarität ja aus der Kritik des Antisemitismus, nicht umgekehrt. Dass es trotzdem gesagt werden muss, liegt an der warenförmigen Konstitution jeder Art von Öffentlichkeit im Kapitalverhältnis: Kritik ist kein Standpunkt, der sich verteidigen, sprich: verkaufen lässt; eine Israel-Fahne kann man besser raushängen oder vor sich hertragen als die Dialektik der Aufklärung. Da die linke Subkultur kein bisschen anders funktioniert, trifft man zuweilen auf Antideutsche, die Kritik mit Bekenntnis verwechseln und sich Israel als eine Art großer Bruder zu imaginieren scheinen. Das hilft nicht nur herzlich wenig beim Kampf gegen den Antisemitismus, es stellt auch Ansprüche an Israel, die es nicht erfüllen kann. Denn:

2. Israel ist nicht der Kommunismus

… aber es ist eine notwendige Voraussetzung für dessen Möglichkeit. Als reichlich unzureichende Reaktion auf den Staat gewordenen Antisemitismus in einer Welt, der dazu nichts besseres einfiel, verhält der zionistische Staat sich komplementär zum kosmopolitischen Judentum und zur Idee des Weltbürgertums überhaupt: Beide sind keine Antagonismen, sondern aufeinander angewiesen. Die Verteidigung Israels gegen jedwede Kräfte, die es zum ›Juden unter den Staaten‹ machen, ist daher nicht zu trennen von der Verteidigung bürgerlicher Freiheiten zuhause. Und beides steht keineswegs im Widerspruch zum Kampf für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft und damit zur Kritik von Staat, Recht, Demokratie und bürgerlicher Gesellschaft an sich. Daraus die richtigen Schlüsse für die Praxis zu ziehen, ist oft nicht ganz einfach. Von vornherein zum Scheitern verurteilt ist aber, wer auf Rettung aus den Institutionen oder gar von rechts hofft: Solidarität mit Israel geht nicht ohne Gesellschaftskritik – und das heißt:

3. Israel-Solidarität heißt Antifaschismus

… (und umgekehrt). Wenn es um Israel und seine Feinde geht, gemahnen die postnazistischen Zustände beständig an Schlimmeres, und zwar sowohl als Nachhall wie als aufziehendes Donnergrollen am Horizont. Eine Kritik des Antisemitismus, die zumindest in Ansätzen praktisch werden will, erfordert also, das Gedenken an die Shoah zu bewahren und durchzusetzen sowie gleichzeitig den gegenwärtigen Antisemitismus als das zu denunzieren, was er ist: den Versuch, das historische Projekt des Nationalsozialismus zu Ende zu bringen. Dass diese Denunziation sich derzeit in erster Linie gegen Linke richten muss, liegt zum einen an deren offensichtlicher Ersetzung von Religionskritik durch Identitätshuberei. Wichtiger aber, und für das Verständnis des Dschihadismus erfolgversprechender als Koranstudien, ist es, den Antisemitismus als notwendigen ideologischen Fluchtpunkt der autoritären Revolte zu begreifen – sowohl der jetzigen wie der vor hundert Jahren, sowohl hier wie im Nahen Osten. Das palästinensische Blut- und Boden-Projekt nicht irgendwie mit einer Anerkennung von Israels Existenzrecht verheiraten zu wollen, sondern ihm nach Maßgabe der eigenen Möglichkeiten entschlossen entgegenzutreten, ist also kein Ausdruck von anti-arabischem Ressentiment oder gar ›antimuslimischem Rassismus‹, sondern schlicht eine Erfordernis des Antifaschismus.3

Schließlich:

4. Kritik des Antisemitismus ist Antirassismus

Dass diese einfachste und flachste Basisbanalität am ehesten für Irritationen sorgen dürfte, hat ideologiehistorische Gründe, die genauer zu untersuchen wären – hier nur so viel: Ich will natürlich nicht den Antisemitismus jetzt doch wieder als Spezialfall von Rassismus verstanden wissen, eher im Gegenteil: Der linken herrschenden Meinung zu erklären, warum weder »das Gerücht über die Juden« im Allgemeinen noch die Vernichtungspraxis der Nazis (oder der Hamas) im Besonderen zu ihrer Vorstellung von Rassismus passen, ist keineswegs falsch gewesen – wohl aber, daraus nicht gleich den Schluss zu ziehen, anderweitige Diskriminierung und Verfolgung täte das dann wahrscheinlich auch nicht. Ob es um Vorurteile gegen Menschen mit türkisch klingenden Namen oder um Massaker in afrikanischen Kolonien geht – viel Erkenntnisfortschritt scheint der Antirassismus, inklusive postcolonial studies, in den letzten Jahrzehnten nicht erbracht zu haben. Vielleicht ist es an der Zeit, bezüglich unserer ideologiekritischen Auseinandersetzung mit dem sekundären Antisemitismus (die ja in der Konsequenz darauf hinausläuft, dass der Antisemitismus immer schon ›sekundär‹ ist) etwas mehr Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, den Spieß umzudrehen, den Antisemitismus als eine Art Proto-Rassismus zu begreifen und beide als Legitimationsideologie post factum – und die »Falle des Antirassismus«4 links liegen zu lassen, indem man materialistisch beide aus ihrer Geschichte heraus begreift. Nur so ’ne Idee.

Deutsche und inter-nationale Linke in der Krise

Was bedeutet es, wenn man es, auf den Antizionismus bezogen, immer wieder mit dem Ewig-Gleichen zu tun hat, dennoch aber alles immer schlimmer zu werden scheint? Zwei gegensätzliche Beobachtungen: einerseits ist die israelfeindliche Grundhaltung inzwischen so selbstverständlich, das sie gar nicht mehr als mehr oder weniger links begründeter Antizionismus daherkommt.

Andererseits sind viele der Positionen, die noch Anfang des Jahrhunderts als Marker für ›antideutsch hardcore‹ fungierten, mittlerweile nicht nur in der Linken (der deutschen, wohlgemerkt) wenn nicht mehrheitsfähig, dann doch zumindest gang und gäbe; sie sind auch in dem, was von der ›liberalen Öffentlichkeit‹ noch übrig ist, weitgehend unwidersprochen: Israel das Existenzrecht abzusprechen, ist antisemitisch; auch in arabischen Ländern (und im Iran) gibt es verbreiteten Antisemitismus; Islamisten sind nicht nur ultra-religiös, sondern antisemitisch; ansonsten ist der Antisemitismus heutzutage hauptsächlich im linken Gewand unterwegs. In Verbindung mit der Tatsache, dass auch der rechte Antisemitismus verstärkt als Bedrohung wahr- und ernstgenommen wird (seit man damit keinen alten Nazis in wichtigen Positionen mehr auf den Schlips tritt), erst recht aber mit der, dass vereinzelt die Sphäre der Absichtserklärungen verlassen wurde (siehe BDS-Beschluss), scheint hier tatsächlich ein gewisser Fortschritt stattgefunden zu haben. (Um dem noch etwas anekdotische Evidenz hinzuzufügen: rassistischen Bullshit der Marke, »Araber können gar keine Antisemiten sein, weil die doch selber Semiten sind«, der um 2000 herum noch allenthalben vorgebracht wurde, habe ich mir seit etlichen Jahren nicht mehr anhören müssen.)5

Wie aber passt das zusammen mit der ersten Beobachtung, der der selbstverständlichen Israelfeindschaft? Ich deute das so, dass es sich bei beiden Tendenzen um eine Art Normalisierung handelt. Das eine ist eine zivilisatorische Nachholbewegung in Kombination mit modernisierter Markenpflege: Vergangenheitsbewältigung hat sich als erfolgreicher Markenkern etabliert, So-tun-als-sei-nichts-gewesen hat dagegen weniger gut funktioniert, also emanzipiert man sich von der NS-Vergangenheit, indem man sie zum zivilisatorischen Alleinstellungsmerkmal transformiert (und nimmt dabei souverän in Kauf, dass im Output von Gedenkkommissionen und Antisemitismusbeauftragten vereinzelt kritische Inhalte auftauchen). Das andere ist die Normalität der fortschreitenden Krise, die gerade auf die Sistierung jeden gesellschaftlichen Fortschritts zurückgeht und deren äußerer Ausdruck zum Beispiel die Überflüssigkeit Israels als Leuchtfeuer westlicher Freiheit ist.

Der ›freie Westen‹, oder der Kapitalismus oder die bürgerliche Demokratie, das ist hier egal, hat nach seinem Selbstverständnis, das wir an dieser Stelle der Einfachheit halber mal für bare Münze nehmen, auch darauf kommt es hier nicht an, aus eigener Kraft den Kommunismus (oder Realsozialismus, auch egal) besiegt. Dann aber hat er sich als unfähig erwiesen, sich von seinem eigenen für den vergangenen Konflikt in Anschlag gebrachten Antikommunismus zu emanzipieren – einer Ideologie also, die jedes Nachdenken über gesellschaftlichen Fortschritt mindestens als systemgefährdend diskreditiert und unter Generalverdacht stellt. Das Problem ist grundsätzlich nicht neu und nur in seiner konkreten Ausprägung der spezifischen historischen Situation geschuldet: Jede Form bürgerlicher Herrschaft, ja die politische Ökonomie an sich leidet unter dem Antagonismus zwischen der Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums und der Geschichtslosigkeit des gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses, zu dessen Legitimation nichts anderes als eine angebliche Natur des Menschen und eine geradezu spiritistische Beschwörung ›des Marktes‹ zur Verfügung stehen.

Die aktuelle Krise aber zeichnet sich dadurch aus, dass weder eine äußere Systemkonkurrenz noch ein nennenswerter innerer Feind auszumachen sind, deren Abwehr das ideologische Vakuum füllen könnte. Die ideologische Hyperinflation des Trumpismus ist nicht Gegenbeweis, sondern Ausdruck dessen: Um dem Führer zu folgen, müssen seine Adepten heute diesen, morgen jenen Blödsinn nachplappern, können sich dafür aber schon übermorgen kein Brot mehr kaufen. Und auch wenn es, dort wie hier, zuweilen den Anschein hat, als könnten Flüchtlinge den Fokus völkischer Mobilisierung bilden, so spricht doch auch einiges dagegen: zu sehr ist das Kapital auf Zuzug von Arbeitskräften angewiesen, und zu wenig gibt es bei denen zu holen – was selbstredend nicht heißt, dass Geflüchtete in naher Zukunft nichts zu befürchten hätten. Aber, die aberwitzige und immer schneller hohldrehende Rhetorik gegen »Wokism« in Verbindung mit der Untergangshysterie wegen Transgender-Aktivitäten zeigt es: So richtig fokussieren kann sich der neue ADHS-Faschismus bisher nicht. Demnach haben Krise und ideologische Verwahrlosung der Linken viel damit zu tun, dass den Herrschenden auch nichts Zusammenhängendes mehr einfällt.

Ein Fluchtpunkt des ganzen Wahnsinns lässt sich allerdings ausmachen, nämlich das immer häufigere Zutagetreten des altbekannten antifeministischen Backlashs als unverstellte Misogynie. In Deutschland bisher hauptsächlich als Problem von sozialen Medien verhandelt, wird dies am deutlichsten in Putins Reden über die Schwäche des Westens, die er regelmäßig als Verweichlichung, Verweiblichung und Verschwulung identifiziert, im Zusammenhang mit entsprechenden Maßnahmen im Innern (weitestgehende Abschaffung der Strafbarkeit sogenannter häuslicher Gewalt, z.B.) und Trumps offensichtlicher Putin-Verehrung. Die Rhetorik der zugehörigen Propaganda-Apparate erinnert nur zu deutlich an die der Herausbildung des Antisemitismus als politische Partei im 19. Jahrhundert, die ja ebenfalls eine Reaktion auf vorausgegangene politische Emanzipation darstellte.

Die Chancen einer übergreifenden politischen Formierung nach Maßgabe dieses ideologischen Gebräus stehen dennoch eher schlecht, wie sich nicht zuletzt im Iran, aber auch in arabischen Ländern zeigt, wo der gesellschaftliche Kitt der Sexismus-Antisemitismus-Kombi zusehends bröckelt (wenn auch längst nicht so schnell, wie manche angesichts des »arabischen Frühlings« glaubten). Allerdings ist das nicht Ausdruck einer beginnenden Überwindung des Antisemitismus, sondern dessen, dass bis auf weiteres weltweit eher Zerfall auf der Tagesordnung steht und es für jedwede Formierung, welcher Art auch immer, schlecht aussieht. Und weil sie nicht auf Erfolge angewiesen sind, insofern sie die Erklärung für ihr Scheitern immer gleich mitliefern, werden der Antisemitismus als Idioten-Antikapitalismus und die Vernichtung Israels als gerechte Weltordnung für Arschlöcher sich anbieten, je mehr ein Weitermachen wie bisher zur Unmöglichkeit und eine Überwindung der Herrschaft des Kapitals zur Notwendigkeit wird. Als Negativ der Revolution ist in der Krise die autoritäre Revolte die Erscheinungsform der Konterrevolution. Entwarnung sieht anders aus.

Footnotes

  1. So angekündigtes Referat auf dem bundesweiten Vernetzungstreffen von Initiativen gegen Antisemitismus in Hamburg, Mai 2025. Mit Ausnahme der letzten beiden Absätze wurde der Haupttext nur in wenigen Formulierungen überarbeitet, entspricht also sehr weitgehend dem gehaltenen Vortrag. Alle Fußnoten sind nachträglich hinzugefügt.↩︎

  2. Es gibt dort auch noch ein Kritikpapier vom Bündnis gegen Realität Leipzig, auf das ich hier nicht eingehen will.↩︎

  3. Dies bedeutet nicht, ›die Palästinenser:innen‹ hätten generell nix zu wollen, weil alles Nazis, noch ist es eine Stellungnahme für oder gegen irgendeine Ein- oder Zwei-Staaten-›Lösung‹. Gerade Solidarität mit denjenigen, die unverschuldet unter der derzeit fast ausschließlich gewaltförmigen Bekämpfung des quasi-staatlich organisierten und schwer bewaffneten Antisemitismus (sowie deren ideologisch und innenpolitisch motiviertem Gewaltüberschuss) zu leiden haben, setzt die Anerkennung der Tatsache voraus, dass das Projekt ›Palästina‹ ein eindeutig und unumkehrbar völkisch-exterminatorisches ist, das sich ebenso notwendig, wie es antisemitisch ist, gegen die ›eigene‹ Bevölkerung richten muss. Ob das erst seit Arafats offenem Schulterschluss mit dem Dschihadismus in der ›Zweiten Intifada‹ oder schon seit der massenmörderischen Niederschlagung progressiver arabischer Kräfte durch die Anhänger des Großmuftis Amin al-Husseini in den 1920er und -30er Jahren gilt, ist historisch von einigem Belang für die Einschätzung des linken Antizionismus des vergangenen Jahrhunderts, nicht aber für die der Melonen-Fahnen schwenkenden und »From the River to the Sea!« schreienden Konterrevolution heute. Die Vorstellung, es gäbe daneben noch eine ›andere‹ Palästina-Solidarität, ist bestenfalls Realitätsflucht.↩︎

  4. Jan-Philipp Reemtsmas so betitelter Aufsatz erschien zuerst in Konkret 1990,11 und wurde 1992 in seiner Sammlung u.a. Falun: Reden und Aufsätze (Berlin: Tiamat) sowie in dem Konferenzband Das Eigene und das Fremde (ed. Uli Bielefeld, Hamburg: Junius) abgedruckt. Ich weiß nicht, ob der mal irgendwo ernsthaft diskutiert worden ist (außer in der HSB natürlich) und empfehle nachdrücklich, das zu tun.↩︎

  5. Diese Beobachtung wurde allerdings durch mehrfachen Hinweis aus dem Auditorium sofort von der Ebene anekdotischer Evidenz auf die bloßen Zufalls herabgestuft: einige Anwesende hätten genau das in letzter Zeit des Öfteren zu hören bekommen. Was natürlich zu befürchten war.↩︎