Arbeit und Wahn
"Sie proklamieren das Recht
auf Arbeit als ein revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat!
Sklaven nur sind einer solchen Erniedrigung fähig. 20 Jahre kapitalistischer
Zivilisation müßte man aufwenden, um einem Griechen des Altertums eine solche
Entwürdigung begreiflich zu machen!"
Paul Lafargue 1883 über die Revolution von 1848
Ein Geschrei geht um die Welt: Wir wollen Arbeit, wir wollen Arbeit! Brave
ArbeiterInnen und Angestellte werden unversehens radikal. Sie stürmen Konzernzentralen,
besetzen Banken, blockieren Autobahnen, zertrümmern Mannschaftswagen und werfen
mit Steinen nach PolizistInnen, als sei ihnen plötzlich die untertänige Biederkeit
abhanden gekommen. Doch was so radikal eingeklagt wird, ist mehr als kläglich:
Fern davon, das bedrohliche Gespenst zu sein, das einst die KapitalistInnen
in Angst und Schrecken versetzte, flehen sie ihren Klassenfeind um Arbeit an.
Beutet uns aus, erniedrigt uns, zerstört unsere Gesundheit, macht mit uns, was
ihr wollt, aber gebt uns um Himmels willen Arbeit, lautet die message der
modernen SklavInnen. Daß sich bei so viel Erniedrigung der Rest der Gesellschaft
nicht kollektiv übergibt, sondern vielmehr Beifall spendet, läßt sich nur verstehen,
wenn man die Durchsetzungsgeschichte dieser merkwürdigen Universalplage betrachtet,
die sich derzeit so viele Menschen an den Hals wünschen. Ihre Geschichte liest
sich als endlose Aneinanderreihung von Grausamkeiten, Verstümmelungen, geistiger
und materieller Armut, Disziplinierung, langsamer und schneller Tode, wovon
der plötzliche Arbeitstod und Herzinfarkt nur mehr die originellere moderne
Variante darstellen. Es verwundert daher kaum, daß ihr Begriff etymologisch
ausschließlich auf Negativbestimmungen verweist: Arbeit von ,arbejioiz', im
Germanischen die Mühsal, wiederum hergeleitet von dem germanischen Verb ,arbejo',
soll heißen "bin verwaistes und daher aus Not zu harter Tätigkeit gezwungenes
Kind." Die Arbeit im Lateinischen, ,laborare', gleichbedeutend mit Mühe, Anstrengung,
oder "das Wanken unter einer Last". Und noch im Neuhochdeutschen drückt man
im zusammengesetzten Begriff ,Mordsarbeit' den Sachverhalt recht treffend aus.
(1) Die Sklaverei wurde verboten, Mord und Folter sind geächtet und werden verfolgt;
man bekämpft die Armut - aber wie steht es mit der Arbeit? Es ist doch seltsam,
daß sie, die häufigste unnatürliche Krankheits- und Todesursache bis heute ganz
und gar frei ausgeht. Sie scheint in und um uns so omnipräsent geworden zu sein,
daß sie als unhinterfragbares Naturphänomen wahrgenommen wird, das sich genauso
wenig beseitigen läßt wie ein Herbststurm oder eine todbringende Dürre. Für
die schaffenskräftigen Bürger alleinige Existenzberechtigung und Daseinsform
schlechthin, ist sie für das betende Volk darüber hinaus göttliche Bestimmung.
Von der Tätigkeit zur Arbeit
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte hilft, den Ursachen des kollektiven Arbeitswahns
auf die Spur zu kommen. Daß Menschen schon immer die Natur zu ihren Zwecken umgeformt
haben, ist banal und braucht nicht weiter betont zu werden. Daß es sich dabei
schon immer um Arbeit gehandelt haben soll, wie heute von links bis rechts kolportiert
wird, bestreiten wir dagegen energisch. Die ursprüngliche ,Umformung der Natur'
durch Menschenwesen bildete eine unentwirrbare Synthese von körperlichen, geistigen,
kultischen und fetischhaften Äußerungen, die eine von ihnen abgetrennte, eigenständige
Sphäre der Arbeitstätigkeit weder kannte noch zugelassen hätte. Die allgemein
üblichen Reproduktionstätigkeiten vollzogen sich in der Regel in einer gemächlichen,
dem jeweiligen Lebensrhythmus weitestgehend angepaßten Atmosphäre. Fehlendes künstliches
Licht, Wechsel der Jahreszeiten und die Launen des Wetters beschränkten die Betätigungen
auf natürliche Weise. Mit dem Aufkommen der monotheistischen Religionen sollten
zahllose Feiertage den Tätigkeitsspielraum noch weiter einschränken. Erstmals
mit der Sklaverei in den sogenannten frühen Hochkulturen entstanden gesonderte
Produktionsbereiche, in denen die Unterjochten zu dauerhaften und einseitigen
Tätigkeiten in Bergwerken, bei der Erbauung von Kultstätten, an den Rudern der
Galeeren und ähnlichem verdammt wurden. Doch der Großteil der Unfreien, zumeist
Haus- und LandsklavInnen, betätigte sich in der Regel - nicht anders als die Freien
- auf vielfältigste Art und Weise und pflegte seine oder die Bräuche seiner Herrschaften.
Soweit in der Sklaverei und zum Zweck militärischer ,Massenproduktion' Tätigkeiten
entstanden, die ihrer Form nach die Arbeit schon antizipierten, unterlagen sie
der allgemeinen Verachtung und galten als sklavisch, erniedrigend, leidvoll und
geistlos. Im letzten Jahrhundert vor Christus besang der griechische Dichter Antiparos
deshalb begeistert die Erfindung der Wassermühle, die die Mädchen vom Getreidemahlen
befreite: "Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben arbeitslos
(2) uns freu'n, welche die Göttin uns schenkt." (3)
Befreiung in der Arbeit
In den antiken Stadtstaaten noch inzipient und
marginal, kamen im Mittelalter einige auf den Warentausch ausgerichtete
Tätigkeiten auf, die sich ganz allmählich aus der üblichen Lebensgestaltung
herauslösten und sich nach den langsam aufkommenden Marktgepflogenheiten zu
modellieren begannen. Auch die fürstliche Berufung zu besonderer, mit barer
Münze entgoltener Tätigkeit kann ihrem Wesen und ihrer Form nach als eine der
ersten Arbeiten gelten. Doch die religiösen Feudalstrukturen mit ihren Bräuchen,
sittlichen und moralischen Maßstäben, ihren großen Familienverbänden sowie die
allgemeine Verachtung der "leidvollen, sklavischen Tätigkeiten" und des
Gelderwerbs setzten der Produktion für das Marktgeschehen enge Grenzen und
blockierten so einen Aufbruch in die Zukunft der Arbeit. Das war so gar nicht
nach dem Geschmack der geldorientierten Vorhut aus Kaufleuten, HandwerkerInnen,
bezahlten Scharlatanen und nicht zuletzt zahlreicher Feudalherren selbst, die
eine Ausdehnung der Tätigkeit für den Warentausch gern gesehen hätten.
Bevor die feudalistischen Hindernisse mit Waffengewalt aus dem Weg geräumt
werden konnten, mußten all die leidvollen Tätigkeiten vom negativen Image
befreit und im Gegenzug Verschwendungssucht, unproduktiver Müßiggang und simple
Geldabpressung verdammt werden. Gott sei's gedankt, ein stimmgewaltiger bärtiger
Mann namens Luther trat auf die Geschichtsbühne und führte diesen ideologischen
Kampf an. Der Protestantismus war geboren und mit ihm die Religion der
gottgefälligen ,arbejioiz', der "Mühsal, Not, die man leidet oder freiwillig
übernimmt". Nur wer selber leidet (arbeitet), sollte Gottes Segen zu spüren
bekommen und ein Recht auf Nahrung haben, so das lutherische Credo für die
künftige bürgerliche Arbeitswelt. Das Werterad drehte sich, drückte Geist,
Frohsinn, Verschwendung und Muße in den Staub und ,adelte' die aufkommende
Arbeit. Angepaßter Lebensrhythmus wandelte sich allmählich zu kostbarer
Arbeitszeit und Untätigkeit zu verschwendeter Zeit. "Der Protestantismus, diese
den neuen Handels- und Industriebedürfnissen der Bourgeoisie angepaßte Form der
Kirche, kümmert sich wenig um die Erholung des Volkes; er entthronte die
Heiligen im Himmel, um ihre Feste auf Erden abschaffen zu können", pointierte
der erklärte Arbeitsfeind Paul Lafargue diesen Sachverhalt (ebenda, S. 33).
Geld zu Arbeit, Arbeit zu Kapital
Doch der eigentliche Durchbruch der
Arbeit kam erst mit der ,Idee', das Geld durch bezahltes fremdes ,Leiden' zu
vermehren. Altar und Tausch verschmolzen zur Ideologie der Marktwirtschaft, die
dieser neuen Gepflogenheit Sinn und Segen gab. Geld zu Arbeit und Arbeit zu
Kapital. In den manufakturellen Laboren der ,Geldproduktion' bewährte sich
alsbald die Lohnarbeit als lebendige Triebkraft eines unaufhaltsam
akkumulierenden und expandierenden Kapitals. Die französische Revolution
schaffte endlich den adäquaten rechtlich-institutionellen Rahmen, um die
kapitalistische Akkumulation so richtig in Gang zu bringen. Sie "befreite nun
die Arbeiter vom Kirchenjoch, um sie um so strenger unter das Joch der Arbeit zu
spannen", so Lafargue (ebenda, S. 33 ). Von den alten Hindernissen befreit,
konnte jetzt so richtig die grausame Zurichtung von Mensch und Gemeinschaft auf
die Erfordernisse des marktwirtschaftlichen Äquivalenzprinzips und des monotonen
Arbeitslebens beginnen. Zuchthäuser, Schulen, Arbeitsstätten, Industrieschulen,
Klerus und Militär peitschten Zeitsinn und Disziplin ein (4)
und exorzierten Muße und unbekümmerten Genuß. Die Arbeit entfaltete und
universalisierte sich, produzierte die Gesellschaft als einen Zusammenhang
indirekt vergesellschafteter Subjekte und richtete sich schließlich ihrer Form
nach als eigenständige Sphäre in ihr ein. Die neue Welt war gespalten in
Privatheit und Öffentlichkeit und brachte weitere Sphären wie Recht, Politik,
Ordnungsmacht, Gesundheit, Ökonomie etc. hervor, die der Gewährleistung der
Arbeitsverwertung dienten. Den Großteil der Tageszeit an besondere Arbeiten
gefesselt, mußten sich andere um die allgemeinen Angelegenheiten kümmern, deren
Bewältigung sich alsbald selbst in die Form partikularer, ungesellschaftlicher
Arbeit goß. Arbeitszeiten, die jedem und jeder antiken SklavIn einen Schauer
über den Rücken gejagt hätten, machten es den ArbeiterInnen unmöglich, sich
ihren Lieben und sich selbst in Muße zu widmen. Die bürgerliche
Rollenzuschreibung feierte fröhliche Urständ: Sie degradierte die Frau zur
häuslichen Sklavin für die Arbeitskraftreproduktion des Mannes und zu dessen
seelischem Mülleimer; sie erfand die hingebungsvolle, liebende Gattin und Mutter
und nannte dies natürliche Bestimmung. Verdammt zur grausamen Einsamkeit des
individuellen Gelderwerbs, standen sich nun mehr und mehr Menschen als
unversöhnliche Konkurrenten um Existenzrechte gegenüber, objektiv voneinander
getrennt, nur für sich zuständig und verantwortlich. Die Glaubensgewißheit und
festgefügte Ordnung des Feudalismus mußte einer neuen, allgegenwärtigen und
permanenten existenziellen Verunsicherung weichen.
Sozialismus, die Fortsetzung des Protestantismus mit anderen Mitteln
Was Kirche und Bourgeoisie begonnen, setzte die Arbeiterbewegung mit unausgesetztem
Impetus fort. Gegen ihre Ausbeutung führte sie nun einen säkularisierten Protestantismus in Gestalt der sozialistischen Ideologie ins Feld. Opfer
der kollektiven Vergeßlichkeit, konnte sie sich ein Leben jenseits der Arbeit
nicht vorstellen. Folgerichtig sollten lediglich die KapitalistInnen abgeschafft
werden, um der Arbeit den Ausbeutungscharakter zu nehmen und sie weniger leidvoll
gestalten zu können. Wieder fanden sich Geist und Intellekt, Muße und Schlendrian
an den Pranger gestellt und jede unproduktive Arbeit geächtet. Es verwundert deshalb
nicht, daß sich die Arbeiterschaft, diese "selbst nur besondere Existenzweise
des Kapitals" (Marx, MEW 23, S. 353), samt ihrer geistigen Führung, bevorzugt
auf jene Aussagen von Marx und Engels beriefen, die ihre arbeitsethischen Vorstellungen
untermauerten. Nur wenige wollten oder konnten die Marxsche Ambivalenz hinsichtlich
der Kategorie der Arbeit erkennen. Auch wenn er von der Arbeit als "ewiger Naturnotwendigkeit"
sprach, so war doch zumindest klar, daß er damit nicht die Lohnarbeit meinte.
Diese wollte er eindeutig abgeschafft sehen: "Es ist eins der größten Mißverständnisse, von freier, gesellschaftlicher
menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ,Arbeit'
ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, von Privateigentum
bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums
wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebug der Arbeit gefaßt
wird". (5)
Die unermüdlich voranschreitende Arbeitsverwertung brachte bald mächtige
Industrienationen hervor, hinter denen immer mehr Regionen der Erde
zurückblieben und zu kolonialen Plünderungsreservoiren herabgedrückt wurden.
Gewaltige Revolutionen erschütterten den Globus und konstituierten in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialistische Staaten, die fortan danach
trachteten, Anschluß an die entfesselte und unermeßliche Reichtumsproduktion der
kapitalistischen Mächte zu bekommen. Eine nachholende, beschleunigte
Akkumulation wurde in Gang gebracht, die der ursprünglichen hinsichtlich
Grausamkeit bei der Durchsetzung von Lohnarbeit und Zeitdisziplin in nur wenigem
nachstand. Abermillionen Menschen wurden aus der bäuerlichen
Subsistenzwirtschaft herausgerissen, um als LohnarbeiterInnen die aus dem Boden
gestampften Fabriken zu alimentieren. "Der russische Mensch ist ein schlechter
Arbeiter im Vergleich mit den fortgeschrittenen Nationen (...). Arbeiten lernen
- diese Aufgabe muß die Sowjetmacht dem Volk in ihrem ganzen Umfang stellen", so
der verzweifelte Lenin, der angesichts der drückenden Notwendigkeiten und dem
Zustand seiner real existierenden Völkerschaften allmählich seine Hoffnungen auf
eine kommunistische Zukunft dahinschwinden sah. Auch diesmal bedurfte es einer
Religion, um dem Ganzen Sinn und Zukunftsaussicht zu geben. Wie einst Luther,
setzte Stalin eine Religion der Arbeit in die Welt, die als
,Marxismus-Leninismus' in die Geschichte eingehen und von zahllosen
"Zuspätgekommenen" übernommen werden sollte.
Moderne Arbeitswelt
Aufgrund von technischen Errungenschaften und einer fortgeschrittenen Arbeitszerlegung
konnte den vereinseitigten ArbeiterInnen bald ihr stählernes "Ebenbild" zur Seite
gestellt werden. Folgerichtig schmückte man diese mechanischen ArbeiterInnen mit
dem russischen Namen ihrer lebendigen Vorbilder: Roboter, hergeleitet von ,Knecht',
,Diener' oder ,Sklave'. Industrielle Automation, rasant wachsender stofflicher
Reichtum und schließlich wachsende KonsumentInnenheere, die bedient werden wollten,
erforderten immer neue, qualifiziertere Arbeiten, verlangten nach Bildung, Wissenschaft
und Forschung. Immer weiter fächerte sich die Arbeitswelt in Spezialgebiete auf
und hinterließ dennoch gewaltige Residuen von Monotonie, Einseitigkeit und körperlicher
Plackerei. Doch wie immer ihre gesellschaftlichen Durchgangsstadien bezeichnet
werden mögen, als ,tayloristisch', ,tertiär', ,modern' oder ,postmodern' etwa;
ob die Menschen geistig oder manuell tätig waren und sind, ob lohnabhängig oder
selbständig; ob sie als ManagerIn oder LehrerIn ihr Dasein fristen; ob sie sich
zur Arbeit berufen fühlen oder diese lediglich als lästigen Job begreifen: An
Doppelcharakter und Unbedingtheit der Arbeit hat sich substantiell nichts geändert.
Als abstrakte konstituiert sie jene Form indirekter Vergesellschaftung, die sich
unabhängig vom individuellen Willen hinter dem Rücken der ProduzentInnen durchsetzt
und beständig unverrückbare Sachzwänge erzeugt. Den Einzelnen oktroyiert sie sich
als einzig mögliche Art der Existenzsicherung und hält sie in ihrem jeweiligen
Arbeitsmikrokosmos gefangen. Sie zwingt sie so dazu, sich als unversöhnliche Konkurrenzsubjekte
auschließlich um das eigene Fortkommen zu bemühen, immer nur für sich selbst verantwortlich
und deshalb für andere prinzipiell nicht zuständig. Sie hat sich zum "automatischen
Subjekt" (Marx) über die Menschheit erhoben und bestimmt deren Geschicke. Moral,
Ethik und Ideologie fungieren als Sinnstifter und notwendiges Korrektiv für die
dieser "phantasmagorischen" (Marx) Gesellschaftsform innewohnenden automatischen
Vernichtungslogik. In ihrer konkreten Gestalt ist sie Lebenssinn und Plage zugleich.
Sie verlangt nach Identifikation und stößt zugleich beständig ab. Sie nimmt den
größten Teil der Lebenszeit in Beschlag und drückt auch dort, wo sie nicht wertproduktiv
ist, ihren Formstempel auf. Ob im Bodybuildingstudio, im Hobbykeller, unter gleißender Sonne oder im Haushalt,
nahezu überall dominieren ihre Maßstäbe. Ehrgeiz, Ausdauer, Selbstdisziplinierung,
Motorikrationalisierung, Hetze, Leistungswahn und Äquivalenzdenken steuern selbst
die intimsten Lebensäußerungen. "Gib mir deinen Saft, ich geb dir meinen..." besingen
die ,Fantastischen Vier' den modernen Äquivalenz- und Leistungssex. Statt Muße
herrscht Ruhe als Mittel der Regeneration, und Faulheit stellt nur die unproduktive
Kehrseite der Arbeit dar. Und was macht der inzwischen vielbeschworene bewußte
Genußmensch, der Hedonist? Er wähnt sich frei und individuell, weil er die Markt-
und Arbeitszwänge "genüßlicher" als seine Konkurrenten exekutiert. Der moderne
Arbeitsmensch ist einsichtig und treibt sich zumeist selber an. Peitsche und radikale
Arbeitsideologien haben ausgedient. Am meisten stört ihn, so die Umfragen, wenn
andere weniger arbeiten als er und sollten ein Kollege oder eine Kollegin morgens
zu spät zur Arbeit erscheinen, schallt ihnen, zumindest in Deutschland, unüberhörbar
das kollektiv ausgerülpste "Mahlzeit!" entgegen.
Aufhebung oder Barbarei
Widerspruch gegen verschiedene Momente der
Arbeit hat es immer gegeben. Doch erst Marx legte eine umfassende Kritik ihres
Wesens und der von ihr erzeugten Totalität vor, die, wie oben angeführt, von
seinen Jüngern und Jüngerinnen schnell zurechtgestutzt und schließlich begraben
wurde. Heute überwiegt eine Kritik, die diesen Namen nicht verdient hat. Durch
Umgestaltungen und Bereicherungen sollen die Sinnhaftigkeit der Arbeit bestärkt
und die Moral hochgehalten werden. Durch Flexibilisierung und Verkürzung wird
versucht, sie auf möglichst viele Köpfe zu verteilen und zugleich ihren
Effizienzgrad zu erhöhen. Ein ganzer Arbeitskosmos aus Arbeitssphäre,
existenzieller Arbeitsabhängigkeit, Arbeitsethik wie Arbeitssozialisation hält
die Mehrzal der Menschen bisher in ihrem Arbeitswahn gefangen und hindert sie
daran, ihm auch nur gedanklich zu entfliehen. Die mit der Wohlstandsgesellschaft
eingetretenen partiellen Einbrüche in Arbeitsethik und -moral, die als Basis für
eine Kritik der Arbeit unbedingt zu begrüßen waren und sind, geraten unter dem
Druck der anschwellenden Arbeitslosenheere in den Hintergrund und scheinen sich
ganz zu verflüchtigen. Ketzerisches haftet ihnen an. Selbst den freudigsten
ArbeitsverächterInnen vergeht derzeit die Stänkerlaune.
Dabei sind die Bedingungen für eine fundamentale Kritik der Arbeit so günstig
wie noch nie, denn der Kapitalismus hat definitiv mit seiner Selbstuntergrabung
begonnen, indem er, von der mikroelektronischen Revolution angetrieben, sowohl
die wertproduktive abstrakte wie die konkrete Arbeit in all ihren Varianten
sukzessive abschafft. Die Arbeit hat ihre ,zivilisatorische Mission' erfüllt,
insofern sie mit ihrer ungeheuren technischen und geistigen Produktivkraft den
Grundstein für die Möglichkeit einer müßigen, kreativen, in selbstgewähltem
Rhythmus vollzogenen und von allen bewußt geplanten, direkt gesellschaftlichen
Lebensgestaltung gelegt hat. In dieser Hinsicht und nur in dieser, kann sie ex
post als ein historisch notwendiges und progressives Durchgangsstadium gelten. (6)
Da die in Gang gesetzte kapitalistische
Dynamik immer nur weiter in eine moderne Barbarei treibt und keineswegs in die
von uns gewünschte, mögliche sonnige Zukunft, geht es nun mehr darum, das begonnene
Werk auf eigene Weise zu vollenden, indem diese destruktive Form überwunden
wird. Das kann nur heißen, die Arbeit radikal zu kritisieren und den durch Arbeit-
und Tauschökonomie versperrten Zugang zu den stofflichen und geistigen Potenzen
praktisch freizumachen. Soll es nicht in die Barbarei gehen, müssen der Kampf
um die Definition einer "revolutionären Modernität" (7) und deren energische Durchsetzung auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Wird in der nächsten Nummer fortgesetzt. Gaston Valdivia
(1) Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 1995, S. 55 ff.
(2) Die Verwendung der Begriffe "arbeitslos" oder "Arbeit" in Texten antiker
Dichter und Denker beruht im Grunde auf falschen Übersetzungen bzw. Interpretationen,
die auf einer typisch bürgerlichen Übertragung des Arbeitsbegriffs in antike
Sprachen und Lebenswelten beruht.
(3) Antiparos, zit. in Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit, Frankfurt/M.
1966, Seite 32.
(4) Die "Zeit" ist, salopp formuliert, eine "Erfindung" der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft.
Sie kommt mit der Tauschökonomie in die Welt und universallisiert sich mit der
kapitalistischen Lohnarbeit. Einerseits Grundlage des Wertes, Abstraktion von
konkreter Arbeit auf Zeit, wird sie andererseits erst mit der Expansion des
Wertes durch Lohnarbeit zu einer "gesellschaftlichen Realkategorie". Dialektisch:
Zugleich Grundlage und Resultat des prozessierenden Kapitalverhältnisses. Zum
Thema Zeitvergesellschaftung verweise ich auf meinen Aufsatz "'Zeit' ist Geld
und Geld ist ,Zeit'; Von der Produktion der ,Zeit' zu ihrer marktwirtschaftlichen
Dekonstruktion" in Krisis, Nr. 19.
(5) Karl Marx: Über Friedrich Liszt, Berlin 1972, S. 24.
(6) Hierin ist weder eine moralische Bewertung anderer menschlicher Gemeinschaften
noch die Annahme impliziert, die historisch entstandene ,Zivilisation' samt
ihrer ,Vernuft' hätte universelle Geltung oder sollte sie haben.
(7) Der Begriff ist als Provisorium gedacht und dient zunächst der Distanzierung
von den bisher üblichen sozialistischen, kommunistischen, modern bürgerlichen
oder naturalwirtschaftlichen Zukunftsvisionen.